Leistungskurs Kunsterziehung
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Goethe in der Campagna
Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, 1751-1829
1787 in Rom gemalt, Öl auf Leinwand, 164x206 cm, heute im Städelschen Kunstinstitut, Frankfurt/Main
Bildbetrachtung von Uli Schuster
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klick für großes BildFormal ist die Bildfläche durch eine Diagonale von li oben nach re unten in zwei Hälften gegliedert (Rollover), was aus dem Bild thematisch mehr macht als ein bloßes Portrait: Goethe und die Landschaft der Campagna di Roma. Ungewöhnlich ist daran nicht, daß die Person in eine Landschaft gestellt wird. Das kennt man schon aus Bildnissen der Renaissance. Die Landschaft steht dort meist für die Heimat, im weitesten Sinn den Lebensraum des Portraitierten, der oft nur als Brustbild gezeigt ist. Neu an Tischbeins Bild ist der Umfang, in dem die Landschaft zum Portrait hinzutritt mit beinahe gleichen Flächenanteilen. Neu ist auch der Bezug des Portraitierten zur Landschaft, in der nicht ein Lebensraum, nicht ein mythischer Raum (Raum einer historischen Erzählung) angesprochen ist, sondern ein Erlebnisraum ( der Dichter auf einer Bildungsreise in Italien ). 
Die Beziehung des Portraitierten zur Landschaft ist also überwiegend eine geistige oder psychische. Zu diesem Typus Seelenlandschaft kennt man im 18. Jh. Vorläufer. Allerdings weniger im Zusammenhang mit Portraits lebender Personen, sondern vielmehr als Schauplatz mythologischen Geschehens, als Staffage für ein Heldenepos oder ein Idealbild pastoralen arkadischen Lebens (Poussin, Lorrain). Das Portrait einer realen, lebenden Persönlichkeit erhält nun mit der Landschaft einen Schauplatz für geistige, seelische Vorgänge. Was Goethe innerlich beschäftigt, das spiegelt der Maler in der Landschaft.
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Landschaftsdarstellung in der Romantik

Landschaft erobert sich seit der Renaissance zunehmend einen Platz  in der Malerei. Zunächst als Schauplatz mythologischer Szenarien ( z.B. der Geburt Christi ), heldenhafter historischer Ereignisse, z.B. Schlachten, aber auch mit der Absicht einer Schilderung heimatlichen, ländlichen Lebens. In der klassizistischen Sicht eines Tischbein tritt eine geistige, ideelle Beziehung zwischen Portrait und Landschaft in den Vordergrund. Bei Landschaften von C.D. Friedrich und anderen Romantikern wird Landschaft zum Sinnbild des menschlichen Daseins (Nerdinger S. 42), werden in der Beziehung Mensch / Natur nicht geistig - ideelle Zusammenhänge inszeniert, sondern "Entsprechungen von Gemütsstimmungen und Naturzuständen" (Nerdinger S. 44) gesucht. Die Landschaft bleibt demnach ein Projektionsfeld für innere Vorgänge der dargestellten Menschen, nur der Schwerpunkt verlagert sich vom 'großen Geist' zum 'großen Gefühl'. Das kann Sehnsucht, Fernweh, Trauer sein, aber auch ein Ergriffensein von der Großartigkeit der Schöpfung (bei Koch) oder auch die hingebungsvolle Liebe zur Heimat, zum Vaterland. Meist sind es die großen Gefühle, die die Romantik bewegen, die auch in den Bildern mit übergroßer Deutlichkeit zum Vortrag kommen und uns heute in ihrer Inbrunst und ihrem Schwulst manchmal auch peinlich berühren. Das gilt vermutlich besonders heute für eine Jugend, die sich dem Motto "cool sein" verschrieben hat und beispielsweise in Schlagertexten den romantischen Schwulst lieber in der fremden Sprache Englisch als in der eigenen singt und hört.
Der Mond ist aufgegangen.
Die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar,...
(Matthias Claudius 1773)

Dabei war die Romantik auch eine Jugendbewegung und enthält Elemente des Aufbegehrens gegen die etablierte und als kalt empfundene Welt der Alten. Den Studenten, ihren Verbindungen, Burschenschaften, ihrem zwischen Jugend und Erwachsensein schwankenden Lebensgefühl, ihrer vagantischen Lebensweise entspringen viele der romantischen Ideen.
Ich möcht' als Spielmann reisen
weit in die Welt hinaus,
und singen meine Weisen, 
und gehn von Haus zu Haus....
(J. von Eichendorff 1809)

Diese introspektive Auffassung von Landschaftsmalerei entwickelt die Romantik  weiter, z.B. Caspar David Friedrich. 

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Es ist nicht anzunehmen, daß das Bild eine reale Situation zeigt, quasi ein frühes Beispiel touristischer Fotografie. Die Elemente der Landschaft, sanfte Hügel - weite Ebene, Architektur mit Teilen einer röm. Wasserleitung, einem Mausoleum, diverse Pflanzen, farbliche Stimmung, sind sicher der Realität der Campagna entnommen. 
Das gesamte Arrangement geht jedoch deutlich über Zufälligkeiten hinaus: Teile eines ägyptischen Obelisken, ein Relief mit griechischen Gestalten, Reste römischer Architektur zeigen die Basis, auf der die Gedanken Goethes, sein Weltbild ruht, stellen seine literarischen Überlegungen - man weiß, daß er gerade an der Iphigenie arbeitet - in einen Kontext mit vorgeschichtlichen Texten ( Hieroglyphen hatte Tischbein zunächst auf den Sitzstein gemalt ) und griechisch-antiker Tragödiendichtung ( Iphigenie ist ein Stoff des Griechen Euripides).Auf dem Reliefstein abgebildet ist eine Begegnung Mann-Frau, vermutlich Orest-Iphigenie. Der Bruder trifft auf die fern der Heimat in Verbannung lebende Schwester. Dies ist entfernt auch ein Gleichnis für Goethes eigene Situation als Reisender, "Tourist" im fremden Land.
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Warum begibt sich jemand wie Goethe auf eine derartige Reise?
Es geht einerseits um Bildung, das kennt man heute noch: Reisen bildet. Andererseits sucht Goethe wie auch Tischbein und Generationen von Bildungsbürgern und Künstlern vor und nach ihnen an den historischen Schauplätzen die Inspiration für ihre Stoffe, das Gefühl für antikes Leben, den Geist der Antike, die in ihren Überresten durch den verstehenden Geist zu neuem Leben erweckt werden. Auch die Flucht vor einer unglücklichen Liebschaft erleichtert den Abschied von der Heimat.Goethe ist ein Reisender von besonderem Format und vielseitigem wissenschaftlichem Interesse, Biologie gehört dazu. 
Die Pflanzen im Bild sind schwer identifizierbar. Der leibhaftige, große Dichter und die literarische Tradition - dazu würde das Eichenblatt an seiner linken Schulter passen. Efeu überrankt Vergangenes - neues Leben auf altem Stein. Goethes Finger zeigt evtl. auf einen "Frauenmantel", eine Anspielung auf erotische Freuden mit dunkeläugigen Römerinnen, die ihn seinen Liebeskummer vergessen lassen? Unter seinem linken Fuß könnte ein Wegerich dargestellt sein. Letzteren legt man dem Wanderer in den Schuh gegen Entzündungen! Beides sind Heilpflanzen: Seelenheil und Fußschmerzen - das wäre eine humorvolle Anspielung seines Zimmergenossen in Rom und intimen Vertrauten, Tischbein.
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In der Haltung der Figur betont Tischbein statuarische Prinzipien, kombiniert er Frontalität (Oberkörper) mit dem Profil (Kopf und Beine) nahezu auf ägyptische Weise. Diese Haltung ist künstlich und anstrengend wovon man sich leicht überzeugen kann indem man versucht sie nachzustellen. 
Die Horizonthöhe (Betrachterauge) weist dem Betrachter einen leicht untersichtigen Blickpunkt zu, erhebt den Dichter über den Betrachter. 
Suche den Horizont mit dem Mauszeiger!
Sein zeichnerischer Malstil arbeitet mit klarem Kontur (=Umriß) und modelliert die plastischen Werte wie ein Bildhauer mit Licht und Schatten. Die  farblich einheitliche Hülle des weißen Mantels, die im Bild auffällig mit der Farbe des marmornen Reliefsteins korrespondiert, verdeckt die modische Kluft des Reisenden unter einem antikisierenden Faltenwurf, schließt die Kontur und den gesamten Körper zu einem einzigen weißen Block. Der Kopf erhält mit dem wieder frontal ausgerichteten Hut und seiner breiten Krempe eine Art Nimbus(=Heiligenschein). Sogar der Himmel klart um seinen Kopf herum auf zu einer lichten Aureole: Eine wahrhafte Lichtgestalt, unser verehrter Dichterfürst! 
Tischbein stellt Goethe überlebensgroß dar. Das kann man an der Bildbreite leicht ablesen, in die die gestreckte Figur sicherlich nicht passen würde. Allein eine solche Vergrößerung übersteigert das Bildnis ins Monumentale. Tischbein nähert sich mit den Mitteln der Portraitmalerei dem plastischen Denkmal an, macht einen lebenden Schriftsteller zum Objekt öffentlicher Verehrung.
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Buchquellen:
Nerdinger, "Vom Klassizismus zum Impressionismus", S. 21 ff
Kamerlohr "Epochen der Kunst IV" S.89
http://www.forum-rom.de/goethe%20in%20italien/goethe%20in%20italien%20start.htm
Jürgen Mulzer hat sich die Arbeit gemacht Goethes Tagebuch der Italienreise und die Briefe aus dieser Zeit mit Bildern zu versehen. Alle Stationen lassen sich über die Eingangsseite auch direkt ansteuern.