Seminar Gymnasialfach Kunsterziehung                                                                                                                                                                                         Fachgebiete der Kunsterziehung
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Raumdarstellung 
in der Zeichnung von Schülern
von Uli Schuster
Es gibt in der Kunsterziehung wenige Bereiche, über die in der Geschichte der Kunsterziehung so viel nachgedacht wurde, wie über die Kinderzeichnung. Und in diesem Komplex spielt die Entwicklung der räumlichen Darstellung eine erhebliche Rolle. Das liegt vielleicht daran, daß man in der Kunst mit der Perspektive seit Jahrhunderten über ein Verfahren verfügt, das rational, meßbar, in Bestandteile zerlegbar und in seinem historischen Entstehungsprozeß, seinen Vorformen innerhalb der Kunstgeschichte gut erkundet ist. Das macht parallele Beobachtungen, Analogien zur Entwicklung der Kinderzeichnung, relativ  leicht. 
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Warum soll das Kind die Fähigkeit zur räumlichen Darstellung entwickeln?
Offenbar hängt die Fähigkeit zur räumlichen Wahrnehmung, Bewegung und Orientierung im Raum nicht unmittelbar zusammen mit der Fähigkeit der zeichnerischen Darstellung. Ein erheblicher Teil der Bildenden Kunst unserer Gegenwart verzichtet zudem ganz bewußt auf die Verfahren der illusionistischen Raumdarstellung, darüber hinaus gab und gibt es in der Kunstpädagogik Richtungen, die in einer Förderung realistischer Abbildungsinteressen im Jugendalter einen verhängnisvollen Irrweg sehen, der das Kind vom spontanen und ausdrucksbetonten Darstellen wegführt und nur einer kopflastigen und emotions- und kunstfeindlichen Rationalität Vorschub leistet. Sollen wir heute in der Kunsterziehung diesem Weg folgen?
links die Zeichnung meiner dreijährigen Tochter. Die Mutter hat notiert, was sie dazu sagt: "Ein Mund mit Zähnen". Wenn man's weiß, dann sieht man's.

Für mich liegt der Wert einer Ausbildung der Fähigkeit zu räumlich-illusionistischer Darstellung darin, daß diese nicht nur Ausdruck innerer Vorgänge, sondern eine Methode bildhaft-symbolischer und damit geistiger Aneignung unserer gegenständlichen Umwelt ist, und die Kommunikation über diese Welt der Gegenstände ermöglicht. Aber die Zeichnung ist nicht die einzige Möglichkeit, sich die die Welt der Dinge bildhaft und damit symbolisch anzueignen, auch fotografie und Film leisten das und schließlich ist auch schon das Schauen, Betrachten und Benennen und Beschreiben eine Methode der Vergewisserung von der Welt der Dinge, so daß man sagen kann: Sicher braucht nicht jeder Mensch alle diese Fähigkeiten im gleichen Maß, und sicher werden immer nur wenige ihre Anlagen bis zu einer gehobenen Fertigkeit ausbilden können und wollen. 
Der Wunsch nach Bewahrung der ursprünglichen kindlichen Ausdruckskräfte sieht dieses Vermögen nur von der einen Seite und muß als kulturkritische aber auch kulturpessimistische Sehweise ernst genommen werden. Aber diese vom Expressionismus geprägte Haltung ist blind gegenüber dem Aneignungscharakter von bildhafter Symbolisierung und wendet sich letztlich gegen eine Zivilisation, der sie sich selbst verdankt.

Die wichtigste Erkenntnis der letzten Jahrzehnte psychologischer Erforschung des Denkens scheint mir die Erkenntnis über die enge Verknüpfung von Denkabstraktion, Handeln und  Realabstraktion zu sein: Abstraktionen sind keine Hirngespinste, sondern unser reales Verhalten zu bestimmten Dingen ist von Abstraktionen geprägt. Und hier scheint das Greifen, Bauen, Zeichnen und alle Formen spielerischen Tuns eine wesentliche Grundlage für die Ausbildung von Phantasie, Vorstellung und letztlich auch von Begreifen darzustellen. Die raum-zeitlichen Dimensionen des Tuns und Handelns bilden sich in Strukturen des Denkens, der Sprache und auch der bildnerischen Gestaltung ab.

Entwicklung der Raumdarstellung
Kinder scheinen das Zeichenpapier zunächst einmal für das zu nehmen, was es ist: eine Oberfläche. Sie entwickeln die Fähigkeit, die Spuren, die sie hinterlassen, auf der Fläche gezielt anzuordnen, einander zuzuordnen und damit zu organisieren. Damit legen die Spuren Zeugnis ab von Handlungen und deren Absichten. Das Kind lernt, die Spuren selbst formbildend zu lenken und entdeckt, daß die Formen mit symbolhafter Bedeutung belegt werden können und von anderen gelesen werden können. Gleichrangig wie das Zeichen- und Malpapier sind der Tisch, die Tapeten des Wohnzimmers, Hände und eigenes Gesicht. Spuren kann man fast überall hinterlassen, aber es erstaunt, daß man für das eine gelobt, aber für das andere geschimpft wird. Auch wenn das Kind sich im Babyalter seinen Umraum längst mit Augen, Händen und Beinen erschließt, zeigt es noch kaum Sinn für eine illusoinistische Sicht vom Zeichenpapier. Das Übereinanderlegen von Spuren, die sich dann verdecken und auslöschen, ist in der Kritzelphase vielleicht die erste Entdeckung, die in dieser Richtung gemacht wird, und die das Kind zielstrebig und lustvoll entwickelt. Die eigene Spur deckt zu, was da vorher vorhanden war.
Mit der Entdeckung der symbolischen Form scheint sich eine Orientierung auf der Zeichenfläche nach oben und unten zu entwickeln, hört das Kind auf, die Zeichen übereinanderzuschichten. Die Linien schließen sich zu Formen, deren Innen und Außen bedeutungsvoll wird. Im Alter von 4-5 Jahren haben die gezeichneten Formen bereits einen klar abbildenden Sinn, d.h. Gegenstände werden in ihrer Gliederung erfaßt und erkennbar wiedergegeben, dabei sucht das Kind offenbar nach einer Objektansicht, die Überschneidungen vermeidet und charakteristische Ansichten bevorzugt. Da Kinder am ehesten Stifte anvertraut bekommen, findet Ihr Sinn für den Umriß auch eine leichtere Ausprägung, wie der für die Fläche und Oberfläche. Möglicherweise reproduziert die Darstellung von Gegenständen mittels ihrer Kontur auch im wesentlichen eine durch Tast- und Greiferfahrung gewonnene Einsicht in die dingliche Form, ahmt erinnerte Bewegungen der Hände und Augen nach.
Zeichnung von Doris, 8 Jahre
In der streifenweisen Schichtung von unten nach oben entwickeln die meisten Kinder während der Grundschulzeit eine erste Lösung für die Darstellung von Vorne und Hinten. Die Mehransichtigkeit von Objekten wird durch simultane Darstellung erzeugt. Zur selben Zeit suchen manche Kinder durch die bewußte Wahl extremer Ansichten, z.B. auch der Draufsicht, ihre räumlichen Probleme zu lösen. Diese liegen m.E. in dem Bedürfnis, Aktion und Handlung, also zeitliche Ereignisse darzustellen. Weit verbreitet ist in dieser Phase auch bereits die Fähigkeit, unterschiedliche Raumrichtungen simultan darzustellen, was bei Quaderförmigen Körpern zu einer Art Parallelperspektive führt. In den meisten Fällen geht diese Fähigkeit wohl auf die Übernahme von Lösungen zurück, die von Lehrern oder Erwachsenen angeboten wurden, oder aus zeichnerischen Vorlagen entnommen sind. Die Psychologie der Kinderzeichnung hat lange Zeit darauf vertraut, daß sich das bildnerische Vermögen im Kind quasi von selbst ausbildet, und das ist nur zum Teil richtig. Auch das Sprechen lernt man von selbst, aber in der Sprachkultur, die ein Kind entwickelt, im Wortschatz, Satzbau etc., spiegeln sich die Vorbilder der Eltern und anderen Gesprächspartner bis hin zur sozialen Schicht, in der das Kind aufwächst. Das ist mit Bildern nicht anders.
Raumdarstellung in der gymnasialen Unterstufe
Dies etwa ist der Stand der Entwicklung, wenn Kinder ins Gymnasium Überwechseln. Schon in diesem Alter ist es eigentlich müßig, darüber nachzudenken, wie sich das Kind von alleine weiterentwickeln würde. Die gymnasiale Kunsterziehung muß sich vielmehr fragen, in welchen Schritten sie dem Jugendlichen einen weiteren Ausbau seiner Fähigkeiten anbieten soll, und inwiefern sie damit rechnen kann, daß der Schüler solch ein Angebot verarbeiten kann. Ich spreche deshalb gezielt von Schülerzeichnung, während der Begriff "Kinderzeichnung" ein Tun unterstellt, das frei ist von erzieherischen Einflüssen.
Ich selbst habe in der 5. Jahrgangstufe immer einen Sinn darin gesehen, den Blick der Schüler auf die Proportionen zu lenken, und zwar an einem Objekt, an dem viele im Alter von 10 Jahren bereits ein Darstellungsinteresse verloren haben: "Menschen zeichnen kann ich nicht." Indem am Menschen Maß genommen wird, ist auch ein Maß definiert für die anderen Gegenstände, die die Schülerzeichnung bevölkern. Die Aufmerksamkeit auf die Körperproportionen zu lenken bedeutet auch, die eigenen Körpermaße zu einem Faktor der Raumerfahrung zu machen.
Ein zweiter Gesichtspunkt, der zur Raumdarstellung in dieser Altersstufe führen soll, ist für mich das Thematisieren von Handlung. Situationen und Handlungsabläufe machen bei ihrer bildlichen Darstellung ein hohes Maß an kompositorischer Organisation der Bildfläche notwendig. Auch die Arbeit an einer Zeichnung oder einem Werkstück, allein oder zu mehreren, ist ein Handlungsablauf, der im Alter von 10 Jahren ein erhebliches Maß an räumlicher und zeitlicher Organisation bedarf. Hier muß der Lehrer von der Aufgabenstellung her die Möglichkeit schaffen, daß sich die Kinder auch in ihrer Arbeitsrealität mit den Elementen Raum, Zeit und Handlung auseinandersetzen können. In vielen Fällen wird man feststellen können, wie die realen Auseinandersetzungen in der Gruppe oder in der Klasse symbolhaft in die abgebildete Realität hineinragen. Die Arbeit an einem gemeinsamen großen Bildformat, das Aneinanderhängen von zwei Zeichenblättern, das arbeitsteilige Erstellen eines Werkstücks sind wichtige Organisationsformen der Unterrichtsarbeit in dieser Altersgruppe.
Wesentliche Erfahrungen auch für die illusionistische Raumdarstellung werden bei plastischen Arbeiten gemacht. Insbesondere das Relief liefert den Schülern der Unterstufe eine Annäherung an Probleme der räumlichen Schichtung. Bauen von Landschaften und Puppenstuben wird immer mit Interesse aufgenommen. 
Die Entwicklung des Zeitgefühls bedeutet in diesem Alter auch die Weckung eines Interesses für historische Zeiträume und historische Ereignisse. Raum und Zeit verschmelzen in der Perspektive zu einem voneinander abhängigen Phänomen. In der 6. Jahrgangsstufe habe ich immer die Parallelperspektive als ein Verfahren angeboten, einfache quaderige Körper wie Häuser und Buchstaben regelrecht zu konstruieren. Begriffe wie Umriß, Tiefenlinie, Seitenfläche, Kante u.a. lenken den Blick der Schüler auf Elemente der Raumdarstellung. Der Horizont als Trennlinie zwischen Luft und Boden erscheint dann auch naheliegend.
Die Neugier nach räumlicher Darstellung wird spürbar bei Klappbildern, die Einblicke oder Durchblicke ermöglichen oder auch bei Darstellungen von Querschnitten. Die Organisation von Raumordnungen ermöglichen den Kindern Aufgabenstellungen wie Landkarten, Schatzkarten. Das Labyrinth als Aufgabenstellung bildet symbolisch das Problem der räumlichen Orientierung in einer Weise ab, wie es Jugendliche im Zeitraum der Pubertät offenbar seit Jahrtausenden empfinden. Labyrinthdarstellungen und Labyrinthartige Tänze spielten in Initiationsritualen seit der Steinzeit eine dokumentierte Rolle. 

Für die Organisation der Unterrichtsarbeit gilt in verstärktem Maß die Forderung, die Schüler an der Verantwortung über die räumlich-zeitliche Struktur des Unterrichts zu beteiligen. Bauaufgaben stellen einen geschlossenen Weg von der zeichnerischen Planung zur räumlichen Umsetzung dar. Hier lassen sich gezielte Rollenspiele inszenieren. Bauherr, Architekt, Stadtplaner, Bürgermeister lassen sich als Rollen besetzen.

In der 7. Jahrgangstufe wächst das Interesse an der illusionistischen Raumdarstellung dann sichtlich. Folgende Probleme werden dann in der Regel mit Interesse aufgenommen: Die teilweise Überlagerung und Verdeckung hintereinander liegender Gegenstände. Die proportionale Verkürzung, die zum Fluchtpunkt führt. 'Parallelperspektive' und 'Zentralperspektive' scheinen den Schülern ein willkommenes Ordnungssystem im vorgestellten Raum zu sein, zumal sie im Alter von 12 Jahren die Widersprüchlichkeiten in der Vielfalt von "naturwüchsigen" Raumdarstellungsverfahren in ihren Zeichnungen als störend empfinden. Mit Bildergeschichten läßt sich das Problem des Bildausschnitts thematisieren - das Anschneiden von Bildobjekten ist bis dahin ein meist unbekannter illusionistische Effekt. Andere Elemente des fotografischen Bildes werden nun mit Interesse verfolgt und nachgeahmt, so etwa die filmischen Einstellungsgrößen oder auch Bewegung im Raum etwa beim Daumenkino oder im Zeichentrickfilm
Auch im Bereich der Farbe erwacht das Interesse an der Farbperspektive, an der gezielten Farbabstufung, am Farbverlauf. Dem Interesse an illusionistische Darstellung entspricht auf der Handlungsebene ein Interesse und die erwachende Fähigkeit zur Dokumentation und Berichterstattung. Fotografie und Video lassen sich hier ausgezeichnet in Projekte einbinden, und stellen selbst ein differenziertes, arbeitsteilig zu organisierendes Tätigkeitsfeld dar.
Aufgabe: Zoom
Raumdarstellung in der gymnasialen Mittelstufe
In der Mittelstufe entsteht ein Auge für Licht und Schatten. Dazu gibt es in diesem Kapitel einen eigenen Text "Das Helldunkel in der Schülerzeichnung". Der Zusammenhang von Profil- und Frontalansicht z.B. beim Portrait läßt sich thematisieren. Die Zentralperspektivischen Elemente Horizont, Fluchtlinien, Fluchtpunkt bedürfen einer Erklärung. Hier kommt der Schulung der Lesefähigkeit von Bildern wie auch dem "Zeichnen nach der Natur" eine wichtige Aufgabe zu. Konstruierter Raum und Landschaftsdarstellung können zueinander in Spannung und Widerspruch treten. Die Abhängigkeit der Objektansicht vom Standort und der Bewegung des Betrachters im Raum wird nun bewußter wahrgenommen. Die Einheit von Raum und Zeit und der mechanische Charakter der zentralen Projektion kann mit Hilfe der Fotografie verdeutlicht werden. Der Bau einer Camera Obscura und das erste Foto mit Hilfe einer Schuhschachtel legt den Zauber des fotografischen Bildes in die Hand des Schülers. 
Die Darstellung eines Körpers in Rissen wird als objektives Verfahren akzeptiert. Abwicklung einfacher Körper und maßstäbliche Abbildung treffen auf Interesse. Insbesondere im gebundenen Sachzeichnen und im Aufgabenfeld Design liegen deutliche Chancen, technisch interessierte Mittelstufenschüler für freiwillige Arbeitsgemeinschaften anzuwerben. 
Viele Schüler sehen jedoch über den Tellerrand der einzelnen Aufgabenstellungen nicht hinaus, und bauen die erworbenen Fähigkeiten, Techniken und Begriffe nicht in ein eigenes Darstellungsvermögen ein, leisten auch mangels selbsttätiger Übung nicht den Transfer auf freie Anwendung des Gelernten. 
Als echtes Problem macht sich hier für die Organisation der Unterrichtsarbeit die Verkürzung der Unterrichtszeit auf eine Wochenstunde bemerkbar. Projektarbeit ist so nicht mehr organisierbar. Ein Einbinden der projektiven Zeichnung in einen sinnvollen Arbeitsprozeß fällt äußerst schwer. Ebenso ist es mit der dokumentierenden 
Darstellung. Äußerst beschränkt ist auch die Möglichkeit, von der Zeichnung zum Objekt zu kommen, um z.B. die Qualität einer konstruktiven Darstellung zu überprüfen. Hier muß die Chance in freiwilligen Arbeitsgemeinschaften gesucht werden. Ab der 10. Jahrgangsstufe macht sich ein Interesse bemerkbar, den illusionistischen Raum aufzubrechen, ihn als Illusion zu enttarnen. Manieristische, barocke, surreale Raumwelten beginnen die Schüler zur Nachahmung zu reizen. Oft überfordern die komplizierten Konstruktionen die Schüler. Zweipunktperspektive, Höhenfluchtpunkt, Anamorphosen einfacher Art liegen jedoch im Bereich des Möglichen. 
In dieser Altersstufe gewinnt die Zeichnung zunehmend eine Bedeutung als Instrument für Abstraktionsprozesse. Die räumliche Struktur eines Bildes in Auszügen nachzuvollziehen, die Umgestaltung einer vorgegebenen Architektur, Textur- und Helldunkel Studien, räumliche Durchdringungen, Körperschnitte sind Aufgabenstellungen, die herausfordern. 
Raumdarstellung in der gymnasialen Oberstufe
Mit 16-17 Jahren sind gymnasiale Schüler so weit das System der zentralen Projektion zu verstehen. Einmal in ihrer schulischen Laufbahn sollten sie in das Wahrnehmungsmodell der Zentralperspektive vertieft eindringen, sich einen Begriff vom "Augpunkt" und "Horizont" machen, das System in Grundriß, Aufriß und Seitenriß verstehen, die Zusammenhänge begreifen. Je nachdem wie die Schüler das aufnehmen, und manche Klassen sind dafür echt zu interessieren, kann man komplexere Architekturrekonstruktionen zeichnen lassen ohne daß dabei die Phantasie und ein spielerisches Element  zu kurz kommen müssen. 
Im Leistungskurs stelle ich in den letzten Jahren ein zunehmendes Desinteresse an der Perspektive und ihren konstruktiven Grundlagen fest. Einerseits scheuen viele die Komplikationen einer rationalen und konstruktiven Herangehensweise an das Gestalten, andererseits mögen den Schülern die Diskontinuitäten im modernen Raum-Zeit-Erlebnisses, die  letztlich in der Bildenden Kunst zu einer Abkehr von der Perspektive geführt haben, mit der Muttermilch eingegeben worden sein. 
Beim modernen Menschen tritt die eigene Wahrnehmung des Raumes und der natürlichen Dinge zurück gegenüber der Rezeption vorgefertigter, medial vermittelter Wahrnehmungen, die uns mittels einer Flut von statischen und bewegten Bildern täglich durch die technischen Medien vor Augen gestellt werden. Die globale Sicht der Welt etwa aus dem Weltraum, der Makroblick hinein in die Oberfläche unserer gegenständlichen Welt, der Röntgenblick durch die Dinge hindurch, das mit der Schere montierte Raum-Zeitgefühl des Films oder das von der Fernbedienung des Fernsehers gesteuerte Collagemuster von Video hat unsere Raumwahrnehmung genauso verändert, wie etwa das tägliche Erlebnis der Geschwindigkeit in der Fortbewegung durch unsere Welt. 

Über den Umweg der Computersimulation und der 3-D Animation finden einige "Experten" in der Oberstufe des Gymnasiums allerdings wieder zur Perspektive zurück mit ganz erstaunlichen Leistungen in diesem Bereich. Oben eine Einstellung aus dem Video "Katharsis". Der Raum ist in einem 3-D Programm konstruiert, die Figuren wurden alle im Zeichensaal vor einer blauen Wand aufgenommen, im Computer freigestellt und als Animationen in die Szene eingesetzt. Die Kamera des 3-D Programms erlaubt nun eine simulierte Fahrt durch die gesamte Halle hindurch, und wenn eine Figur im Weg steht, auch durch diese hindurch. (Freie Arbeit in einer Arbeitsgemeinschaft Video&Computer)

Vom Ende der sinnlichen Einheit von Raum und Zeit
Was bedeutet Orientierung im Raum heute etwa für den, der sich im Flugzeug über den Wolken bewegt, oder im Auto  durch den Stadtverkehr. Welch ein Videoclip läuft da vor den Augen eines Säuglings ab, der in 8 Stunden auf dem Rücksitz eines Autos von Milbertshofen nach Rimini fortbewegt wird. Wo soll sich da das Erlebnis eines Augpunkts zum darstellbaren Prinzip einer räumlichen Ordnung verfestigen?
Reinhold Hohl vergleicht in einem Aufsatz über Picassos Kubismus diesen mit der Beschilderung und Bewegung im modernen Straßenverkehr, "wo man etwa nach links abbiegen muß, wenn man (über Schleifen und Brücken) nach rechts gelangen will, und wo man nach vorn(in den Spiegel) schaut, um zu sehen, was hinten ist." Jedes Kind wächst heute mit dem Fernsehen auf und hält es für die selbstverständlichste Sache der Welt, mit den Augen der Olympiade in Australien beizuwohnen, mit den Ohren Bayern 3 zu hören, während es mit der Familie beim Abendessen sitzt. Raum und Zeit bilden für uns nur noch im Ausnahmefall eine sinnlich wahrnehmbare Einheit.

War das perspektivische Bild in der Renaissance noch als Fenster (Alberti), Durchblick, also immateriell definiert, auf einen immateriellen, zum Augpunkt reduzierten Betrachter zugeschnitten, so beziehen die technischen Medien zunehmend wieder eine taktile Dimension in die Wahrnehmung von Bildern ein (Derrick de Kerckhove: "Touch Versus Vision"). Die Möglichkeit, den Fluß der Bilder durch die Fernbedienung zu steuern, sich im simulierten Raum interaktiv zu bewegen, wirft ein neues Licht auf die Behauptung Marshal McLuhans aus den 60er Jahren, das Fernsehen sei ein taktiles Medium ( The Medium ist the Me(a)ssage ). Fernbedienung, Touchscreen Computermaus und Datenhandschuh stehen am Beginn einer neuen, abstraktifizierten aber taktilen Wahrnehmung der Veränderbarkeit von perspektivischem Bild und simuliertem Raum. Auf eigenartige Weise feiert das in der Kunst totgesagte, nach den Gesetzen der Zentralperspektive und Beleuchtungsperspektive simulierte Raumbild fröhliche Urstände in der modernsten Verlängerung unseres sinnlichen Wahrnehmungsapparats, dem Computer.

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Wolfgang Kehr: (Zitiert aus einem Arbeitspapier)
Definition von Begriffen zur „Perspektive"
für den kunstpädagogischen Gebrauch

Wer sich heute mit der kunsthistorischen und kunstpädagogischen Literatur zur „Perspektive" auseinandersetzt, stößt oft auf eine unterschiedliche Verwendung der damit in Zusammenhang stehenden Begrifflichkeiten. Die Diskrepanzen erklären sich nur zum Teil aus der Tatsache, daß die Termini zur „Perspektive" außer in der bildenden Kunst auch in
der  Wissenschaft  von  der  Darstellenden  Geometrie  und  im  übertragenen  (oft „psychologisierenden") Sinne Verwendung finden. Was zusätzlich überrascht und verwirrt ist  die  Tatsache,  daß  auch  unter  Kunshistorikern  und  Kunstpädagogen  die  Begriffe unterschiedlich definiert werden.
Nun hat es keinen Sinn, vom griinen Tisch quasi „ex cathedra,, historisch gewachsene Begriffe stimmig definieren zu wollen. Wer hat schon den Medienapparat und die Macht dies durchsetzen zu können? Vor einer babylonischen Sprachverwirrung einfach nur zu kapitulieren, ist aber genauso sinnlos. In der folgenden Matrix soll deshalb der Versuch gemacht  werden,  einen  definierten  Gebrauch  der  Begriffe  zumindest  unter Kunstpädagogen wiederherzustellen und vor nicht einsichtigen Begriffsverwirrungen zu warnen.
Die Kriterien für die künftige Verwendung der Begriffe sind dabei folgende:
1.  Die Verwendung der Begriffe sollte möglichst nahe am immanenten Wortsinn (semantische Assoziationen!) bleiben.
2.  Leitliteratur sind qualifizierte kunsthistorische Veröffentlichungen und weniger die didaktischen
Veröffentlichungen von Kunstpädagogen oder die konstruktiven Lehrbücher von Architekten.
3.  Im Sinne des Gewohnheitsrechtes ist der „gewachsene" Gebrauch von Begriffen, der von einer langandauernden Tradition getragen wird, auch dann zu tolerieren, wenn die Termini aus heutiger Sicht stimmiger definiert werden könnten.
 
Zu definierender Begriff:  Vorschlag zur Einigung: Beispiele von abzulehnender Gebrauchsweisen:
Perspektive = Raumdarstellung:
gemeint ist die Gesamtheit von
Gesetzen, welche die bildmäßige
Wiedergabe einer räumlichen
Situation auf einer Bildebene
ermöglichen.
Obwohl Perspektive ja vom spätlatei-
nischen „perspektivus" (= durchblickend)
abgeleitet ist und damit die Zentralper-
spektive assoziiert wird, darf nicht
übersehen werden, daß rückblickend und
abgrenzend der Begriff mit anderen
Bedeutungen kombiniert wird. Siehe zum
Beispiel: Parallelperspektive, Bedeu-
tungsperspektive, Vogelperspektive als
bloßer Grundriß.... 
Gleichsetzung mit der Zentralperspektive

Zentralperspektive
Perspektive im engeren Sinne als
Zentralprojektion, wie sie als
„mathematisch-wissenschaftliche"
Perspektive in der Renaissance
Entdeckt wurde
Gleichsetzung mit Frontalperspektive.
(Im Gegensatz zur Frontalperspektive können
zentralperspektivische Raumdarstellungen sehr wohl mehrere - theoretisch sogar
unendlich viele - Fluchtpunkte aufweisen!)
Linearperspektive Illusionierung eines Raumes auf der Bildfläche durch den Einsatz
linearer Mittel (meist durch die
Umrißlinien der dargestellten
Objekte).
Definition u.a. nach Werner Hofmann Fischer Lexikon Bildende Kunst Bd.2 Frankfurt a.M. 1960, S. 230)
Gleichsetzung mit Zentralperspektive
(Eine parallelperspektivische Darstellung
ist dagegen primär auch eine linearperspektivische Darstellung - analog zu Heinrich Wölfflins Unterscheidung von linear" und „malerisch'.)
Frontalperspektive  Zentralperspektivische Darstellung (Konstruktion) rechtwinkliger Objekte, von denen jeweils eine Seite parallel zur Bildebene bzw. frontal zum Betrachter liegt. Der singuläre Fluchtpunkt liegt meist in der Nähe der Bildmitte. Die in die Tiefe führenden Körperkanten verlaufen orthogonal zur Bildebene.  Gleichsetzung mit Zentralperspektive.
(Die Frontalperspektive ist zwar auch eine Zentralperspektive, jedoch ein Sonderfall davon!)
Farbenperspektive Luftperspektive: Farbverfälschung (Verblauen) und zunehmende Unschärfe. Sfumato

Literaturhinweise
Katalog Picasso 1981 Haus der Kunst München, 
Reinhold Hohl, "Picassos Kubismus", S. 69

"Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde", 
Jean Piaget, Bärbel Inhelder
Klett, Stuttgart 1975

"Die Kinderzeichnung", Hans-Günter Richter,
Schwann, Düsseldorf 1987

"Touch Versus Vision: Ästhetik neuer Technologien" Derrick de Kerckhove in:
Die Aktualität des Ästhetischen, Hrsg. Wolfgang Welsch, München 1993
Version Oktober 98