Kleider machen Leute
Wie Mode die Proportionen des Körpers verändert

Übungen und Überlegungen zu Figur und Mode für die Mittelstufe

von Dominik Miller, Seminar 2006/08

Kleider machen Leute - Immer schon spielte bei der Bekleidung neben funktionalen Aspekten der Wunsch eine Rolle, zu repräsentieren oder sich einer bestimmten Gruppierung zuzuordnen.
Ich habe versucht, das Thema einmal nicht von seiner soziologischen Seite anzugehen, sondern mit dem Fachbereich der Proportionslehre zu verknüpfen. 
Bauchfreie Tops und tiefsitzende Baggypants bringen nicht nur ein bestimmtes Körpergefühl oder eine bestimmte Haltung zum Ausdruck, sondern beeinflussen auch unsere Wahrnehmung der Körperproportionen. Jede Modeepoche hat ihr eigenes Schönheitsideal mit eigenen Proportionen hervorgebracht. Während die Jugend heute vielfach auf kurzen Beinen und mächtigen Füßen einen durch hängende Hemden verlängerten Rumpf trägt, gab es auch schon Zeiten, in denen besonders die langen Beine und kleinen Füße als Schönheitsideal galten.

Die Künstler nehmen Maß

Schon in frühester Zeit haben Architekten und Künstler sich mit den menschlichen Proportionen beschäftigt. Die wohl älteste schriftliche Aufzeichnung über menschliche Proportionen finden wir im ersten Jahrhundert v. Chr. bei dem antiken römischen Baumeister Vitruv. Dieser schreibt in seinem Werk „De Architectura“ über die Proportionen des menschlichen Körpers:

"Den Körper des Menschen hat die Natur so geformt, dass das Gesicht vom Kinn bis zum oberen Ende der Stirn und dem unteren Rand des Haarschopfes 1/10 beträgt, die Handfläche von der Handwurzel bis zur Spitze des Mittelfingers ebenso viel, der Kopf vom Kinn bis zum höchsten Punkt des Scheitels 1/8..... Vom unteren Teil des Kinns aber bis zu den Nasenlöchern ist der dritte Teil der Länge des Gesichts selbst, ebenso viel die Nase von den Nasenlöchern bis zur Mitte der Linie der Augenbrauen. Von dieser Linie bis zum Haaransatz wird die Stirn gebildet, ebenfalls 1/3 ...." 

Auch Albrecht Dürer hat sich intensiv sein ganzes Leben lang mit den menschlichen Proportionen beschäftigt und die Summe seiner Forschungen in dem vierbändigen Werk „Vier Bücher von menschlicher Proportion“ niedergelegt, das posthum 1528 erschien. Er stützt sich dabei auf Vitruv und entwickelt dessen Schema weiter.
In diesem Buch findet sich auch nebenstehende Abbildung, die ich an die Schüler verteile und anhand derer wir die Vitruvischen Regeln überprüfen. 

Es geht dabei nicht um das Aufstellen absolut gültiger Gesetze, sondern darum, die von Künstlern seit jeher angewandte Methode kennen zu lernen, bestimmte Längen am Körper miteinander oder mit der Gesamtlänge des Körpers ins Verhältnis zu setzen, z.B. das Verhältnis von Rumpf zu Körperlänge.

Die Schneider nehmen Maß

Während die Künstler der Renaissance nur mit Längen und Teilungsverhältnissen gearbeitet hatten, die direkt an der Figur zu finden waren, begann man zu Zeiten der industriellen Revolution, das metrische System auf den Körper anzuwenden.
Dieses absolute Maß war notwendig geworden, um einheitliche Größentabellen entwickeln und Konfektionsbekleidung herstellen zu können.

Um die Maßtabellen und Schnitte der Bekleidungsindustrie den aktuellen Bedingungen anzupassen, werden von Zeit zu Zeit Reihenmessungen in der Bevölkerung durchgeführt, bei der bestimmte Maße abgenommen werden und repräsentative Querschnitte erstellt werden.
Unter dem Motto „SizeGermany“ wird seit dem Jahr 2007 eine Reihenmessung mit Lasertechnologie durchgeführt, bei der deutlich mehr Messpunkte als bei herkömmlichen Untersuchungen erfasst werden (Bodyscanning).
 

Nach dieser Einführung geht es im nächsten Schritt darum, zu erforschen, welchen Einfluss Kleidung auf unsere Wahrnehmung des Körpers hat.
Ich habe zu diesem Zweck der Dürer-Figur verschiedene Kleidungsstücke verpasst, deren Auswirkungen auf die Proportionen nun mit der Klasse besprochen werden.

Kleiderentwürfe

Nach dieser Diskussion zeige ich einige Beispiele aus der aktuellen Modeszene, bei denen auf extreme Weise die Proportionen des Körpers verändert werden. Als Beispiel für einen zeitgenössischen Modeschöpfer, der sehr spielerisch mit den Proportionen umgeht, bietet sich Issey Miyake an. 

Schülerübung:

Aufgabe für die Schüler ist es nun, wie bei einer Anziehpuppe Kleider für die Proportionsfigur zu entwerfen, welche die Gestalt des Körpers deutlich verändern. 
Dabei kann man, um eine stoffähnlichere Wirkung zu erzielen, Papierservietten in verschiedenen Farben und Mustern zur Verfügung stellen. Diese können dann auch gefaltet, gerollt und plastisch verwendet werden. 

Das Arbeitsblatt liegt hier als download.

Proportion in der Modezeichnung
< Rollover

Auch angehende Modeschöpfer müssen sich erst einmal mit den Proportionen des menschlichen Körpers auseinandersetzen. Dabei erlernen sie zunächst ein Schema, das der Realitätserfahrung entspricht (8-Kopf-Schema, links).
Für Modezeichnungen verwenden die Couturiers jedoch gewöhnlich ein Schema, bei dem die Figur gestreckt wird und so schlanker erscheint (rechts). Dies entspricht dem aktuellen Schönheitsideal extrem dünner Körper. Die Models werden nach solchen Vorstellungen ausgewählt und zur Verlängerung der Beine mittels hoher Absätze auch noch auf die Zehenspitzen gestellt. 
Auf die Problematik eines solchen Schönheitsideals hat in jüngster Zeit mit großer öffentlicher  Wirkung Oliver Toscani hingewiesen: seine Fotos eines magersüchtigen Models für die Werbekampagne eines italienischen Modelabels wurden in Mailand aus der Öffentlichkeit verbannt.

Geschichtlicher Rückblick - Rokokomode und Empirekleider
 
Wie sehr Mode auch durch Zeitströmungen beeinflusst wird, tritt im Umfeld der Französischen Revolution markant hervor.
Während das Rokoko in ausladenden, reich verzierten Kleidern schwelgte, kommt es ab 1789 im Zuge der Französischen Revolution zu einem radikalen Bruch mit den modischen Konventionen. Spätestens ab 1790 war alles verpönt, was an die Rokoko-Zeit und damit an das Ancien Régime erinnerte. Dies ging 1793 soweit, dass Männer wie Frauen mit gepuderter Perücke riskieren mussten, als Royalisten angeklagt und enthauptet zu werden.
Madame Pompadour
Gemälde von Maurice Quentin de La Tour, 1755
Auf der Suche nach einer Lebensform, die nicht von absolutistischer Herrschaft geprägt war, stieß man auf die griechische Antike. Reifrock, Korsett, Perücke und Stöckelschuhe waren in der Damenmode nun passé, Die aufkommende Antikenbegeisterung führte um 1800 zu langen, unter der Brust lose gebundenen, hemdähnlichen Gewändern aus dünnem weißen Musselinstoff, sogenannten Chemisenkleidern (frz. Chemise - Hemd), die ursprünglich nur als Unterkleider getragen worden waren.
Da diese Kleider den nordeuropäischen klimatischen Bedingungen nicht eben gerecht wurden, kam es wohl häufig zu schweren Erkältungen bis hin zur Lungenentzündung,  die damals deshalb spöttisch auch „Musselinkrankheit“ genannt wurde.
Portrait der Madame Récamier
Gemälde von François Pascal Simon Gérard, 1802
Die Dame links trägt 1742 Korsett, Stöckelschuhe und einen weiten Reifrock, die Dame rechts folgt gute 50 Jahre später dem neuen Directoirestil und trägt ein miederloses Chemisenkleid.
A Section of The Petticoat or The Venus of 42 and 94
Englischer Kupferstich von 1794.

Literatur:

Brattig, Patricia (Hg.): Femme Fashion 1780 - 2004. Arnoldsche Verlagsanstalt 2003. 
Penn, Irving und Miyake, Issey: Irving Penn betrachtet das Werk von Issey Miyake. Schirmer/Mosel 1999
http://www.pemberley.com/janeinfo/pembfun/victcfsh.html#caricvic
http://www.sizegermany.de/