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Kunst als Mythos
"Künstlerfürst und Außenseiter" lautet in der 10. Jgst eine Kapitelunterschrift des Lehrplans. Sie spielt darauf an, daß man Kunstgeschichte auch verstehen kann als Überlieferung von Erzählungen zu Künstlern und Kunstwerken, aus denen sich der Blick einer Zeit, Epoche, Ideologie auf diese Gegenstände spiegelt. Solche Mythen können in der Mittelstufe oder zu Beginn der Oberstufe interessante Gesprächsanlässe im Kunstunterricht schaffen.

Uli Schuster

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Plinius der Ältere, ein römischer Schriftsteller, der beim Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 nach Chr. zu Tode kam, scheint der erste Autor gewesen zu sein, der die Kunst zum Gegenstand von Erzählungen gemacht hat, und zwar in einer "Naturalis historia". Auf die handvoll Textstellen bei Plinius hat sich dann die Renaissance gestürzt, wo es für einige Künstler, wie Leonardo und besonders Vasari zur Leidenschaft wurde, über ihre Kunst im Besonderen und die Kunst ihrer Zeit im Allgemeinen zu schreiben. Mit Beginn des 20. Jhs wird es zum Standard, daß neue Bewegungen im Bereich der bildenden Kunst sich nicht nur mit Bildern sondern auch mit Texten, Manifesten, Biografien, Katalogen einen erklärenden, rechtfertigenden Hintergrund verschaffen. Solche Texte kommen von einzelnen Künstlern selbst oder von Schriftstellern, oder von einer im 20. Jh zur Blüte gelangenden Kunstgeschichtsschreibung, die bei aller 'Wissenschaftlichkeit' oft nicht weit entfernt ist von der Weitergabe alter Geschichten oder der Erfindung neuer.
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Die Erfindung von Malerei und Plastik
Plinius führt die Entstehung der Malerei zurück auf eine rührende Liebesgeschichte. Debutade, ein Mädchen aus Korinth, nimmt bei Kerzenschein Abschied von ihrem Geliebten, der in die Ferne und vermutlich in den Krieg zieht. Die Lampe wirft seinen Schatten an die Wand und das Mädchen zieht den Umriß mit einer Linie nach um das Bild des Geliebten festzuhalten. Der Vater, ein Töpfer namens Butades, füllt schließlich den Umriß mit Ton, brennt die Form und erfindet damit die Plastik. Giorgio Vasari, Maler und Schriftsteller des 16. Jhs, gilt als Urvater der Kunstgeschichte. Er modifiziert diese Geschichte und macht einen Mann, den Lyder Gyges, zum Helden des Epos und läßt ihn mit einem Stück Kohle seinen eigenen Schatten nachzeichnen. Erfindungen wie die Zeichnung oder die Malerei kann man nicht Frauen überlassen. 
Suvée,1791, Brügge, 
Erfindung der Zeichnung 
Vasari, um 1570, Florenz, 
Erfindung der Malerei
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Das Ideal als Gegenstand der Malerei
Seit ihrer Mißachtung durch den Philosophen Platon hat die Malerei große Anstrengungen unternommen um ihren Gegenstand im Reich der Ideen anzusiedeln oder sich selbst zur Wissenschaft zu erklären. Cicero lieferte hierzu eine Legende, die die Maler dankbar aufgriffen. Der griechische Maler Xeuxis sollte für einen Tempel in Kroton das Bild der Helena als Inbegriff weiblicher Schönheit malen. Er verlangte von den Auftraggebern, ihm die schönsten Jungfrauen zuzuführen, weil er nicht alles Vollkommene an einem Körper antreffen könne: Das Ideal steht über der Natur und den Individuen.
französisch um 1530, New York
Xeuxis und die Jungfrauen von Kroton
Was manchen Betrachtern wegen der Malweise als "realistisch" oder "naturalistisch" erscheint, ist in der Malerei keineswegs realistisch gemeint, sondern als Ideal verstanden.
Joos van Winghe um 1600, Wien
Apelles malt Campaspe
Im Wunsch von der Macht über die Schönheit und das Ideal ging eine andere Sage des Plinius noch über dieses Märchen hinaus. Der Hof- und Leibmaler Alexanders des Großen hieß Apelles. Diesen ließ der König ein Bildnis seiner Geliebten Campaspe malen. Wegen ihrer überragenen leiblichen Schönheit war es ein Akt. Apelles verliebte sich prompt in die Dame (oder in ihren Körper?), aber Alexander gefiel andererseits das Bild so gut, daß er das Mädchen dem Maler zum Geschenk machte und selbst das Bild behielt. Joos van Winghe (um 1600, Wien) hat den Moment dargestellt, in dem Amor dem Maler den Pfeil ins Herz stößt. Und die Botschaft der Geschichte: Das Bild ist letztlich mehr wert als das, was es abbildet, oder: die Kunst erhebt sich über das Leben.
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Von der Macht der Bilder zum Bilderverbot
Die Höhlenmalerei der steinzeitlichen Jäger und Sammler wird heute hauptsächlich als Jagd- und Fruchtbarkeitsmagie gedeutet. Die an der Höhlenwand materialisierte Vorstellung vom Ausgang der Jagd soll diesen vorwegnehmend herbeibeschwören. Solcher Glaube an die magische Kraft von Bildern reicht in vielen Religionen bis in unsere Gegenwart hinein. Einige Religionen haben vor solchem Hintergrund die bildliche Darstellung der Götter verboten oder gar ein völliges Bilderverbot ausgesprochen. Die christliche Tradition kennt sowohl den Fetisch, also das Bild, die Reliquie, von der Heil ausgeht, als auch den aufgeklärten Glauben an Bilder als Repräsentation oder Illustration. Im 8. Jh. brach zwischen Ostrom und Westrom ein Bilderstreit aus. Während der Papst die Bilderverehrung zuließ, verboten mehrere byzantinische Kaiser den Klöstern die Bilderproduktion. Der ökonomische Hintergrund: Die griechischen Klöster verdienten eine Menge Geld mit der Produktion von Heiligenbildern (Ikonen) und wurden den Kaisern zu mächtig und unabhängig. Aus dieser Zeit stammt der Mythos, daß der hl. Lukas, der Evangelist, das "Urbild der Madonna" gemalt hätte, auf das alle folgenden Madonnenbilder zurückgehen. Damit erklärt sich auch die Gleichförmigkeit der Ikonen.
Links eine Abbildung des Kopfs vom sog. "Turiner Grabtuch".
Abb. re. zeigt Rogier van der Weydens Bild "Der hl. Lukas malt die Madonna", u, 1436/38, Boston. 
Fetischismus ist in der Psychologie auch ein sehr aktuelles Thema. So gibt es in der Medientheorie einen ganz präsenten Glauben an die Macht der Bilder, der davon ausgeht, daß Rezipienten gelegentlich vergessen, daß sie es bei Bildern mit Repräsentationen zu tun haben, und Bilder für das nehmen, was in ihnen repräsentiert wird.
Eine aufgeklärte Position der Bildrezeption kennt den Mythos vom Bild, das nicht als Illusion (Repräsentation) erkannt wird. Das wiederum geht in der Literatur zurück auf den bereits erwähnten Plinius. Der berichtet über den antiken Maler Zeuxis, daß der ein Bild mit Trauben gemalt habe, auf das die Vögel losgegangen seien um nach den Trauben zu picken.
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Der Maler als Schöpfer
Die Vorstellung vom Maler als Künstler und gebildeter Universalist hat in der Renaissance niemand stärker geprägt als Vasari, der mit seiner Schrift über die Lebensläufe der italienischen Maler von Cimabue bis Michelangelo als Begründer einer systematischen Kunstgeschichte gilt.
Die Selbsteinschätzung der Maler erreicht in der Renaissance einen Höhepunkt, und bedient sich dabei eines der herausragenden biblischen Mythen überhaupt, dem Schöpfungshymnus von Moses. Um 1530 malt Dosso Dossi, Hofmaler in Ferrara, sein Bild, in dem er Jupiter den Schmetterling (griechisch: psyché, ein Sinnbild beseelten Lebens) erfinden läßt, während ihm Merkur die benötigte Ruhe verschafft gegenüber einer ungeduldigen Tugend, der der Akt offenbar zu lange dauert. Im Hintergrund des Bildes ist gerade die Scheidung von Nacht und Tag im Gange und anscheinend ist der Tag schon einigermaßen fortgeschritten.
Der Malerei ist es schließlich gelungen, im Begriff des Schöpferischen eine überragende menschliche Fähigkeit zu verankern, die auch heute noch vielfach mit dem Künstlerischen gleichgesetzt wird.
Dürer hat der Vorstellung vom göttlichen Künstler auf indirekte und sehr subtile Art Ausdruck verliehen mit seinen Selbstbildnis von 1500 aus der Pinakothek München. Er hat sich in die Pose einer Christusfigur gesetzt und als Idealgestalt der Nachwelt erhalten. In seiner Einschätzung vom Künstler weiß er sich mit einigen Zeitgenossen einig. So legt De Hollanda in seinen "Vier Gespräche über die Malerei" von 1538 dem Michelangelo folgende Aussage über die Malkunst in den Mund:
"Man hätte keinen edleren und höheren Gegenstand des Gesprächs finden können, weil die Malerei von Gott selber ausgeht, der als Maler über allen Malern uns erschuf, nachdem er die Erde für uns gemalt hatte.
(zit aus Würtenberger, "Der Manierismus", Wien 1962)
In derselben Quelle wird Federigo Zuccaris Herleitung des Wortes Disegno (Zeichnung) als "segno di dio" (Gnade Gottes) erwähnt. 
Mit dem Titel "divinus" (göttlich) geht die Renaissance auch nicht sparsam um. In seinem "Dialog über die Malerei" läßt Lodovico Dolce 1557 seinen Protagonisten sagen: 
"Meine Gewohnheit ist es nicht, Herr Pietro, irgend jemand zu tadeln; doch kann ich Euch versichern, daß, wer auch nur ein einziges Male die Gemälde des göttlichen Michelangelo gesehen, sich kaum mehr die Mühe geben sollte, zur Besichtigung anderer Werke von was immer für einem anderen Maler die Augen zu öffnen."
(Wien 1871)
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Der Künstler und die Inspiration
Bei aller Gottesähnlichkeit bleiben auch dem Maler zu jeder Zeit reichlich menschliche Züge, die sich kaum verleugnen lassen. Die Distanz zu den Göttern wird dann überbrückt durch die Mär von der göttlichen Inspiration. Was Priester, Literaten und Musiker schon im Altertum für sich beanspruchten, einen direkten Draht zu den Göttern, das behaupten spätestens seit der Renaissance auch die Maler von sich. Vermittelt werden ihnen die göttlichen Ideen durch die Töchter des Zeus, die Musen, oder den Götterboten Merkur. Marcus Geeraerts hat um 1577 in einer Zeichnung satirisch festgehalten, wie der Maler zwischen den weltlichen Nöten und Sorgen der hungernden Familie und der in Melancholie verfallenen Muse hin und her gerissen wird. Nicht einmal die Pfeile des Amor vermögen ihn anzustacheln, noch springt aus dem Stab des Hermes der rettende Funke.
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Die aufgeklärte Moderne glaubt nicht mehr an alte Märchen und erfindet neue
"Als letzter Aberglaube, als trauriges Reststück des Schöpfungsmythos blieb dem westlichen Kulturkreis das Märchen vom Schöpfertum des Künstlers. Es gehört zu den ersten revolutionären Akten des Surrealismus, diesen Mythos mit sachlichen Mitteln und in schärfster Form attakiert und wohl auf immer vernichtet zu haben, indem er auf die rein passive Rolle des "autors" im Mechanismus der poetischen Inspiration bestand und jede aktive Kontrolle durch Vernunft, Moral oder ästhetische Erwägungen als inspirationswidrig entlarvte"
(Max Ernst 1934, zitiert in "Programmatische Texte zur Kunst des 20. Jhs", Schroedel, 1974)
Diese Aussage von Max Ernst erst steht in dem zitierten Band als Fußnote zu einem Märchen, das er ganz im Stil einer hymnischen Dichtung selbst verbreitet:
"Am 10. August 1925 ließ mich eine unerträgliche visuelle Besessenheit die technischen Mittel entdecken, die mir zu einer weitgehenden Verwirklichung dieser Lektion Leonardos (was man aus Wolken und Mauerflecken herauslesen kann...) verhelfen sollte. Es begann mit einer Kindheitserinnerung, in der eine Vertäfelung aus imitiertem Mahagoni gegenüber meinem Bett eine Rolle gespielt hatte - die Rolle eines optischen Provokateurs von Visionen im Halbschlaf. Ich befand mich bei regnerischem Wetter in einem Gasthaus am Meer, betrachtete die Rillen im ausgewaschenen Fußboden und fühlte mich betroffen von der Faszination, die davon ausging. Ich beschloß, der symbolischen Bedeutung dieser wiederholten Faszination nachzugehen; um mein meditatives und halluzinatorisches Vermögen zu verstärken, machte ich eine Reihe von Zeichnungen von den Fußbodendielen, und zwar legte ich Papierbogen darüber, wie es gerade kam, und begann mit Bleistift darauf zu reiben"..."Da begannen meine Augen zu sehen: menschliche Köpfe, die verschiedensten Tiere, eine Schlacht, die mit einem Kuß endet, Felsen, das Meer und den Regen, Erdbeben, die Sphinx in ihrem Stall, kleine Tische rings um die Erde, die Palette Cäsars, falsche Positionen, einen Schal aus Eisblumen, die Pampas..."
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Künstlerbiografie als Modernes Märchen
Biografien eignen sich ganz hervorragend für Erklärungen einer begnadeten Begabung und schicksalshaften Bestimmung, die einen Menschen zum Künstler bestimmt. Dabei lassen sich einige Topoi als stereotypische Mythologeme von Künstlerbiografien destillieren:
  • Schon früh erkennt man in seinem Umfeld sein Talent und eine starke leidenschaftliche Beziehung zur Kunst.
  • Gegen den Willen der Eltern (vor allem des Vaters, der will, dass er einen respektablen Beruf ergreift) setzt der junge Mann seinen Studienwunsch durch.
  • Im Konflikt mit seinem Lehrer und der Institution der Akademie entwickelt er völlig neue Vorstellungen von Malerei, Bildhauerei etc...
  • Erste öffentliche Auftritte mit Gleichgesinnten lösen öffentliche Skandale aus.
  • Die Anerkennung der Fachwelt und des Publikums lässt auf sich warten und stellt sich erst nach Jahren der Entbehrungen ein.
  • Der Verächter akademischer Künstlerausbildung erhält in gesetztem Alter schließlich einen Ruf an die Akademie.
"Neue Mythologien" ist im Lehrbuch Kammerlohr Band 5 ein Abschnitt überschrieben, der den Künstlern Beuys, Boltanski, Lang, Merz  u.a. gewidmet ist. Bei Joseph Beuys wird seine Forderung nach einem "Erweiterten Kunstbegriff" und seiner "sehr persönlichen Ikonographie", die gekennzeichnet ist durch die häufige Verwendung der für die Kunst ungewöhnlichen Materialien Filz, Fett und Honig, in den Lehrbüchern immer in Verbindung gebracht mit seiner Biografie.
"...Beuys wurde als 19jähriger Flakhelfer an Bord eines Kampfbombers 1943 über der Krim abgeschossen. Tartaren, die als Nomaden umherzogen, fanden den schwer verwundeten. Sie nahmen sich seiner an und pflegten ihn in einem Zelt mit tierischem Fett, hüllten ihn in wärmenden Filz..."
Grundkurs Kunst 2 (Klant/Walch), Verlag Schroedel, 1990, S.182
Nerdinger befördert den Flakhelfer zum Piloten und erzält die Geschichte so:
"...Im Winter 1943 stürzte er als Pilot eines Sturzkampfbombers (Stuka) vom Typ JU 87 auf der Krim ab. Nomadisierende Tataren fanden ihn, schwer verwundet, näher dem Tod als dem Leben. In einem Zelt pflegten sie seine Wunden mit tierischem Fett und hüllten ihn in wärmende Filzdecken. Diese Behandlung ist "das Ereignis, das ohne Zweifel den nachhaltigsten Einfluß auf Joseph Beuys haben sollte... Filz und Fett wurden seine wesentlichen plastischern Materialien"(H.Stachelhaus). Selbst in seiner Kleidung, seinem Filzhut und seiner "Fliegerweste", die er wie Markenzeichen trug, hielt er die Erinnerung an den Krieg lebendig."
(Perspektiven der Kunst, Nerdinger, Lurz 1990 S.321/f)
Grundsteine Kunst adelt den Bruchpiloten zum strahlenden Gesalbten:
"Warum wählte er Filz, einen Stoff, der zwar furchtbar kratzt, wenn man ihn auf nackter Haut trägt, dafür aber hervorragend wärmt? Seine Lebensgeschichte kann eine Antwort auf diese Frage geben. Im 2. Weltkrieg wurde Beuys in seinem Flugzeug über Russland abgeschossen und schwer verwundet von Nomaden in Filzdecken gehüllt und mit tierischem Fett gesalbt. Fett und Filz haben deshalb bei Beuys lebens- und energiespendende Qualitäten. Beuys Markenzeichen wurde der Filzhut. Überall, wo er oder sein Filzanzug sich befanden, strahlten sie Energie, nicht nur Wärme, sondern geistige Kraft aus."
"Grundsteine Kunst", Fridhelm Niggemeier, Klett 1995, S.100f
Was ist dran, an den biografischen Legenden, mit deren Hilfe uns per Lehrbuch erklärt werden soll, wie jemand dazu kommt, Filz, Fett und Honig als Materialien in der Kunst zu verwenden, und erklärt sich dies dadurch wirklich?
Klant/Walch wählen eine Schreibweise ("Tartaren") für die Tataren, einem Nomadenvolk mongolischer Abstammung, die laut Brockhaus falsch ist. Beuys ist, wenn man den Lexica trauen darf, 1921 geboren. Demnach wäre er 1943 zweiundzwanzig Jahre alt gewesen oder geworden und nicht, wie das Schulbuch behauptet, 19 Jahre. Was hat ein Flakhelfer an Bord eines Kampfbombers zu suchen? Die JU 87, die auch schon beim Angriff der Legion Condor auf Guernica eingesetzt wurde, war ein Zweisitzer, in der es einen Piloten gab und einen Funker, der auch die 2 möglichen MG's bediente. Ein Flakhelfer hat dort nichts verloren.
Nerdinger macht aus dem Flakhelfer einen Piloten. Das wäre schon plausibler. Auch die Bezeichnung des Flugzeugtyps erscheint realistisch, Stukas wurden im Krimkrieg eingesetzt.
Die FAZ vom 7. August 2000 enthält im Feuilleton einen Artikel mit der Überschrift: "Ein Tag im Leben des Joseph B.
Geheimnisse des Absturzes auf der Krim: Der Künstler Jörg Herold trifft Beuys-Zeugen und beleuchtet das Trauma des Künstlers"
 http://fazarchiv.faz.net/webcgi?WID=98273-9310584-12909_5
Reinhard Müller-Mehlis (kein Beuys-Fan) fasst den Inhalt der Recherche von Herold wie folgt zusammen:
"Beuys verunglückte zusammen mit seinem Piloten Hans Laurinck am 16. März 1944, 8.35 Uhr, 200 Meter östlich des Ortes Freifeld, der heute Snamenka heißt, durch einen Absturz."Sowohl das Soldbuch als auch das Krankenbuchlager Berlin weisen aus,"..."dass Beuys vom 17. März bis zum 7. April 1944 im mobilen Feldlazarett 179 in Kruman-Kemektschi als Patient geführt wurde." Für  acht Tage bei den Tataren blieb dabei keine Zeit. Der Standort des Lazaretts heißt heute Krasno-Wardijske. Gefunden hatte ihn bald nach dem Absturz ein deutsches Kommando. Einheimische waren nicht zur Stelle. Jörg Herold suchte an Ort und Stelle auf der Krim nach Zeitzeugen, nicht ohne Erfolg. Der Pilot Hans Laurinck kam ums Leben, er wurde auf dem nicht mehr existierenden deutschen Heldenfriedhof bestattet. Der tatarische Dorfälteste berichtete, es habe im damaligen Freifeld nur einen einzigen Tataren gegeben, einen Veterinär, ein Opfer der stalinistischen 'Säuberungsaktionen.'"
"Des Kaisers neue Kleider", Reinhard Müller-Mehlis, München 2003, S.114f
In der Gestalt von Beuys sehen viele Interpreten eine Auferstehung schamanischen Geistes. Als Schamanen bezeichnet man die Medizinmänner nomadischer Völker, etwa der Indianer oder Tataren. 'schamanisches Gedankengut' ist aber auch Grundlage des alten Testaments. So folgt die Wortwahl aus 'Grundsteine Kunst': "mit tierischem Fett gesalbt" dem alttestamentalischen Ritus, nach dem die Könige gesalbt wurden und sich die endzeitliche Erwartung und Erlösung auf das Erscheinen eines Gesalbten (wörtlich: Christus) richtet. So wird in der Tatarenlegende der Absturz des todbringenden Bombers zu einer Neugeburt uminterpretiert, die ganz offen dem Weihnachtsevangelium folgt. Den Hirten (Tataren) auf dem Felde weist ein Feuerschein des abstürzenden Flugzeugs (Stern von Bethlehem) den Weg. Unter Schneemassen begraben finden sie den fast erfrorenen, salben ihn und hüllen ihn in Decken aus wärmendem Filz...Kein Wunder, dass für die, die an ihn glauben, seine Werke etwas Magisches besitzen. Wie das Schulbuch zu berichten weiß "strahlten sie Energie, nicht nur Wärme, sondern geistige Kraft aus".

"Neue Mythologien" erscheint vor diesem Hintergrund als eine Richtung der zeitgenössischen Kunst, die dem Faktischen misstraut und Wirklichkeit als eine Erzählung begreift, an der sich jeder mit Phantasie und Kreativität beteiligen kann. Pädagogisch scheint mir der Verzicht auf eine Unterscheidung von Wahrheit und Mähr ziemlich verhängnisvoll. Im Bereich des kindlichen Spiels und in der Kunst dürfen Erzählung und Fiktion einen legitimen Platz beanspruchen, im wirklichen Leben aber sind wir alle angewiesen auf möglichst klare Grenzziehungen zwischen Wahrheit und Lüge. 

Manche Märchen sind Keimzellen für neue Märchen
Um das "Kabaret Voltaire" in einer Züricher Kneipe und die Auftritte von Hugo Ball und Emmy Hennings sammelte sich 1916 bis 1919 eine Gruppe von meist vor dem Krieg geflohenen Exilanten, Künstlern und Gesinnungsgenossen. Als die Kunstgeschichte 30 Jahre später nach dem 2. Welkrieg Dada für sich entdeckte und die kabaretistischen und antikünstlerisch gemeinten Aktionen und Basteleien zu einem kunsthistorischen Ereignis stilisierte, entstand die Frage nach der Bedeutung und dem Entstehen des Begriffs Dada, worüber Hans Richter 1964 ("Dada Kunst und Antikunst") folgendes zu berichten wußte:

Tristan Tzara erklärt die Erfindung von Dada:
"Ein Wort wurde geboren, ich weiß nicht wie?"

Hans Arp erklärt die Erfindung von Dada:
"Ich erkläre hiermit, daß Tzara das Wort Dada am 6. Februar 1916 um 6.p.m erfand. Ich war gegenwärtig mit meinen 12 Kindern, als Tzara zuerst das Wort äußerte...das geschah im Café de la Terrasse in Zürich, und ich trug ein Brioche (Hefegebäck) in meinem linken Nasenloch"

Richard Huelsenbeck erklärt die Erfindung von Dada:
"Das Wort Dada wurde zufällig entdeckt von Ball und mir in einem deutsch-französischen Wörterbuch, als wir einen Künstlernamen für Madame LeRoy, die Sängerin in unserem Kabarett, suchten. Dada ist ein französisches Wort für Steckenpferd."

Hans Richter erklärt die Erfindung von Dada:
"Die einen behaupteten, das Wort sei durch blindes Aufschlagen des Wörterbuchs 'entdeckt' worden, die anderen, es bedeute Steckenpferd, während Ball (gemeint ist Hugo Ball) selbst alle Erklärungen offenläßt....Aus Zeitungen erfährt man außerdem, daß die Kru-Neger den Schwanz einer heiligen Kuh 'dada' nennen; - die Würfel und die Mutter heißen in einer bestimmten Gegend Italiens Dada; Dada ist die Amme und was anderes Nahrhaftes zu dem Ursprung dieses Wortes etwa noch entdeckt werden mag." 

Hugo Ball erklärt die Bedeutung von Dada:
"Dada heißt im Rumänischen Ja, Ja; im Französischen Hotto- und Steckenpferd. Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität und zeugungsfroher Verbundenheit mit dem Kinderwagen."
Eine vielleicht nicht unbedeutende Tatsache kann man bei Hans Richter nachlesen: Die beiden Rumänen aus dem Freundeskreis des Cabaret Voltaire, Tzara und Janco bekräftigten ihre für die anderen unverständlichen Redeströme oft gegenseitig mit "da, da..." (ja, ja) und das blieb in den Ohren der anderen hängen als Universalformel für Weltschmerz und Weltverständnis, Verstand und Unverstand zugleich. Alles o.k?

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Literatur: 
Asemissen/Schweikhart, "Malerei als Thema der Malerei", Berlin 1994
Hans Richter, "dada Kunst und Antikunst", Köln 1973
"Pygmalions Werkstatt", Ausstekllungskatalog München, 2001
"Wettstreit der Künste", Ausstellungskatalog München, 2002

Archiv der Frankfurter Allgemeinen Zeitung FAZ
Der Artikel über die Recherchen des Künstlers Jörg Herold ist leider kostenpflichtig
http://fazarchiv.faz.net/webcgi?WID=98273-9310584-12909_5

Die Tatarenlegende (Seite eines Kunstseminars der Uni Stuttgart)
http://www.kunst.uni-stuttgart.de/seminar/beuys/tataren.html

Gieseke,Markert "Flieger,Filz und Vaterland",Elefantenpress, 1996- Kritisch/
polemische Stellungnahme zur beuysschen Biographie;