Filmanalyse

Dramaturgie, Suspense
Beispiel aus Alfred Hitchcocks "Die Vögel"
Unterrichtsbeispiel für die Oberstufe des Gymnasiums im Fach Kunsterziehung
Von Ulrich Schuster
Die Filmanalyse beschränkt sich sinnvollerweise auf Portionen, die im Unterricht eines zweistündigen Faches abzuhandeln sind. Ganze Spielfilme bieten sich da weniger an als kürzere Sequenzen, etwa die hier abgehandelte. Der Unterrichtsstunde voraus ging eine Einheit, in der die Schüler bereits mit den Elementen der Filmregie, Einstellungsgrößen, Einstellungsperspektiven, Kamerabewegungen, Ton und Schnitt bekannt gemacht wurden. Diese Kenntnisse werden nun anhand der Sequenz gesichert. Es empfiehlt sich, den Film, den in der Klasse vielleicht einige kennen, kurz nacherzählen zu lassen. Dann zeigt man die Sequenz, die untersucht werden soll, zum ersten Mal, nachdem man ihren Inhalt zuvor im Kontext der Filmgeschichte kurz charakterisiert hat.
"In einer Vogelhandlung in San Francisco lernt Melanie Daniels, eine etwas snobistische junge Frau aus der besten Gesellschaft, den jungen Anwalt Mitch Brenner kennen. Trotz seiner sarkastischen Haltung macht er Eindruck auf sie, und sie fährt nach Bodega Bay, um seiner kleinen Schwester Cathy zwei "Liebesvögel" zum Geburtstag zu schenken.
Gleich bei ihrer Ankunft wird sie von einer Möwe an der Stirn verletzt. Melanie entschließt sich zu bleiben und verbringt die Nacht bei Annie Hayworth, der Lehrerin des Ortes. Annie warnt Melanie vor Mitchs Mutter, einer herrischen Frau, die ihren Sohn für sich behalten will.
Als die Kinder am nächsten Tag Geburtstag feiern, werden sie von Möwen angegriffen, und am Abend dringen Spatzen durch den Kamin in das Haus der Brenners ein. Am folgenden Tag will Mrs. Brenner einen Farmer besuchen und findet ihn tot, mit ausgehackten Augen." (F. Truffaut, "Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?" (S.278)
Nach diesem Schock verspricht Melanie der besorgten Mrs. Brenner zur Schule zu fahren und Cathy dort abzuholen. Die Sequenz setzt im Schlafzimmer der Mrs. Brenner ein, die sich gerade erschöpft zu Bett begeben hat und blendet über auf den Sportwagen von Melanie, der gerade die Straße zur Schule emporfährt.
Die Sequenz dauert 3 Minuten und 7 Sekunden. Die jeweilige Dauer der Einstellung wurde so genau wie möglich gemessen.
Die Schüler erhalten ein Arbeitsblatt, auf dem alle Einstellungen der Sequenz durch einen oder mehrere Frameshots vertreten sind.
Filmausschnitt (29MB): MPG laden
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Unter den Bildern ist Platz für die Notierung von
  • Nummer der Einstellung
  • Einstellungsgröße
  • Einstellungsperspektive
  • Kamerabewegung
  • Ton
  • Dauer der Einstellung
  • Schnitt
Dramaturgische Glieder sind:
 
 
  • Die Personen
  • Die Handlung 
  • Der Ort der Handlung, die Szene
  • Die Zeit
Der Videorekorder muß einen Bild-für-Bild Suchlauf gestatten, sonst ist so eine Analyse kaum zu machen. Am Zählwerk wird die jeweilige Einstellungsdauer abgelesen. Die Bewegung der Personen, der Vögel und des Fahrzeugs im Bild werden durch Richtungspfeile markiert.

Musteranalyse:
Ort der Handlung ist ein einsam auf einer Anhöhe gelegenes Schulhaus zu dem eine Straße emporführt. Einstellung 1 leitet mit einer Überblendung zu diesem neuen Ort hin. Zu hören ist das Motorengeräusch eines sich entfernenden Autos.
Personen:
Melanie Daniels, die blonde Frau im Sportwagen;
Annie Hayworth, die Lehrerin
E1(screenshot 1), Totale, 15''
 Mit einem horizontalen Schwenk von ca 30° folgt die Kamera dem offenen Sportwagen, der die Straße (von re nach li) zum Schulhaus hinauffährt.
Eine Art Rahmenhandlung "Ortswechsel" schafft die Voraussetzungen für den eigentlichen Handlungskern der neuen Szene: Harter Schnitt nach E2
E2(screenshot 2), Halbtotale, 20''
Dem anhaltenden Sportwagen entsteigt eine Blondine, Melanie Daniels. Sie geht um den Wagen herum, die Treppe vor dem Haus hoch und öffnet die Türe. 

 

Harter Schnitt nach E3 und Sichtwechsel von  innen nach außen
E3(screenshot 3), Medium, 1''
Durch eine Art Windfang und eine Türe mit Glasscheibe hindurch begibt sie sich in ein Klassenzimmer, in dem eine Lehrerin gerade mit einer Klasse ein Kinderlied probt. 
Harter Schnitt nach E4 und Achsenwechsel
E4(screenshot 4), Halbtotale, 2''
Ein stummer Dialog mit Gesten zwischen Melanie und der Lehrerin Annie Hayworth über die Köpfe der Kinder hinweg sagt dem Zuschauer, daß die Blondine etwas von der Lehrerin will.
Harter Schnitt nach E5 und Gegenschuß
E5(screenshot 5), Medium, 1''
 
 

 

Harter Schnitt nach E6 und Gegenschuß
E6(screenshot 6), Halbtotale, 1''

Annie, die Lehrerin, bedeutet ihr mit einer Geste auf die Uhr, daß sie eine kleine Weile warten soll.
 

 

Harter Schnitt nach E7 und Gegenschuß
E7(screenshot 7), Medium auf Halbnah, 8''
Melanie hat verstanden und scheint zufrieden. Sie schließt die Tür und geht auf den Ausgang zu.
 

 

Harter Schnitt nach E8 verbunden mit einem Sichtwechsel von außen. Der schnellen Schnittfolge während des Dialogs folgt nun eine lang Einstellung über zwei Schwenks hinweg. Während sich Melanie vom Schulhaus entfernt bleibt dieses durch den nach wie vor hörbaren Gesang der Kinder (aus dem Off) präsent.
E8(screenshot 8), Halbtotale über Medium auf Halbtotale, 20''
Die eigentliche Handlung -Warten auf das Unterrichtsende- beginnt
damit, daß Melanie das Schulhaus verläßt.
Die Kamera schwenkt zunächst beim Herabsteigen der Treppe vertikal mit der Frau. 
Bild fehlt (screenshot 9)
Am Fuß der Treppe kommt die Kamera einen Moment zum Stillstand, während sich die Frau nach einem geeigneten Platz zum Warten umsieht.
(screenshot 10)
Dann folgt sie ihr ungeschnitten in einem horizontalen Schwenk um 90° nach links. Man sieht die Frau an einem Bretterzaun entlang gehen, der einen Spielplatz eingrenzt.

 

Mit E9 teilt sich der Handlungsraum in drei Orte auf:

Die Teilung des Raumes vor und hinter dem Zaun erreicht Hitchcock durch einen Perspektivwechsel von E9 auf E10 und ein Näherrücken der Kamera an das Spielgerüst und die Protagonistin: Die Kamera zeigt so abwechselnd das sich füllende Gerüst und die rauchende Blondine.
Harter Schnitt nach E9
E9(screenshot 11), Medium, 20''
Mit dem Rücken zum Zaun und einem dahinter liegenden Klettergerüst läßt sie sich nieder. 
Die Wartezeit vertreibt sie sich mit Rauchen. 
Von links fliegt eine Krähe ins Bild und setzt sich auf das Spielgerüst.
Harter Schnitt nach E10, Wechsel im Kamerawinkel schließt die Sicht auf das Gerüst aus. Der Betrachter ahnt in dem ersten Vogel einen Unglücksboten, wird nun aber gezielt der Sicht auf das sich zusammenbrauende Grauen beraubt, was seiner Neugier Auftrieb gibt.
E10(screenshot 12), Medium, 8''
Das Entnehmen der Zigaretten aus der Handtasche und ihr Entzünden wird in drei Einstellungen E9,10,12 ausführlich gezeigt.

 

Das harmlose Geschehen rund ums Anzünden der Zigarette muß der Zuschauer als Ablenkung begreifen.
Harter Schnitt nach E11, anderer Kamerawinkel, höhere Kameraposition
E11(screenshot 13), 7''
Dazwischen schiebt Hitchcock die Handlung auf dem Spielgerüst.
 

 

Das Spiel mit Wechsel von Vordergrund zu Hintergrund ist eröffnet und fordert Wioederholung.
Harter Schnitt nach E12, gegenüber E10 ist die Kamera näher gerückt
E12(screenshot 14), Medium, 15''
In unregelmäßigen Abständen dreht die Frau ihren Kopf nach rechts und schaut zur Schule hinüber. Man hört, wie sie den Zigarettenrauch ausbläst

 

Harter Schnitt nach E13
E13(screenshot 15), 2''
Eine Krähe landet von links nach rechts ins Bild kommend auf dem Klettergerüst
 

 

Harter Schnitt nach E14, gegenüber E12 ist die Kamera wiederum näher gerückt
E14(screenshot 16), Nah, 8''
Immer wieder wendet dieFrau den Kopf in Richtung Schule
 
 

 

Harter Schnitt nach E15
E15(screenshot 17), 5''
Wieder landet eine Krähe und hüpft auf dem Gerüst nach rechts
 

 

Die Atmosphäre am Handlungsort wird schon in E1 geprägt durch die einsame und exponierte Lage der Schule. Der Klassenraum erscheint als fensterlose, dunkle, durch zwei Türen geschützte Höhle. Das Kinderlied als monotone, schier endlose Untermalung dehnt die Wartezeit monoton in eine unbestimmte Länge, nach jeder Strophe wendet die Protagonistin den Kopf in Richtung Schule, doch sogleich beginnt die nächste Strophe. Das Klettergerüst repräsentiert wie das Lied die Kinder im Bild. Seine Besetzung durch die Vögel erreicht erst in E19 den Charakter der Bedrohung, wo es durch die Vögel vollständig in Beschlag genommen ist.
Harter Schnitt nach E16, gegenüber E14 ist die Kamera jetzt auf  "Groß" aufgerückt
E16(screenshot 18), Groß, 25''
Emotionen der Protagonistin zeigen eine sich ab E12 steigernde Nervosität. Man hört nun, wie sie den Rauch ausatmet. Ihre Kopfdrehungen nach rechts zur Schule werden kontrastiert durch die Einflugrichtung der Krähen, die jeweils von links ins Bild kommen.
(screenshot 19)
 
 
 

Erst am Ende von E16 richtet sich ihr Blick nach links oben.

Harter Schnitt nach E17 in die horizontale Schenkbewegung hinein
E17(screenshot 20), Halbtotale, 8''
Ein langer Schwenk zeigt dann aus ihrer Sicht den Flug einer Krähe, holt sie quasi von hinten ein und 
 

 

(screenshot 21)
führt damit auf den dramatischen Höhepunkt.
 
 

 

Die Emotionen der Zuschauer sind diesem Ereignis voraus. Das wiederholte Zeigen des Gerüsts signalisiert dem Zuschauer frühzeitig das sich anbahnende Ereignis. Die langsame aber stetige Bewegung des Schwenks verzögert den Höhepunkt gleichermaßen wie sie ihn anbahnt. Die Vorahnung des Zuschauers wird konfrontiert mit der immer noch ahnungslosen Frau.
Harter Schnitt nach E18
E18(screenshot 22), Groß, 5''
 
 
 

 

E19 kommt auch für das Publikum überraschend, aber wieder ist es mit seinem Entsetzen der Protagonistin voraus.
E19(screenshot 23), Halbnah, 2''
 
 
 

 

Das Auftauchen ihres Kopfes in E20 wirkt wie ein tiefes Einatmen und Luftanhalten.
E20(screenshot 24), Groß, 2''
Kopf und Oberkörper der Frau schieben sich von unten ins Bild, man erkennt daran, daß sie aufsteht
 

 

E21(screenshot 25), Halbnah, 3''
 
 
 

 

An dieser Stelle ist der Höhepunkt erreicht, die Spannung wird über die nächsten Einstellungen hinweg erst einmal gehalten.
Es erscheint mir naheliegend, für den "Spannungsbogen" der Handlung eine Darstellung als Diagramm zu versuchen. Auf einer Zeitachse werden die drei Minuten Filmzeit angetragen, sodann die Zeitpunkte markiert, zu denen die Vorhandenen Screenshots gehören. Daraus lassen sich Schlüsse ziehen auf die Dauer der zugehörigen Einstellung. Leicht ablesbar ist die Beschleunigung der Schnittfrequenz an zwei Stellen, beim "Dialog" in der Schule und beim Sammeln der Vögel auf dem Gerüst.
Die Analyse kann hier abgebrochen werden.

Was bedeutet bei Hitchcock Suspense?
"Der Unterschied zwischen Suspense und Überraschung ist sehr einfach...dennoch werden diese Begriffe oft verwechselt. Wir reden miteinander, vielleicht ist eine Bombe unterm Tisch, und wir haben eine ganz gewöhnliche Unterhaltung, nichts besonderes passiert, und plötzlich, bumm eine Explosion. Das Publikum ist überrascht...Schauen wir uns jetzt den Suspense an. Die Bombe ist unterm Tisch, und das Publikum weiß es. Nehmen wir an, weil es gesehen hat, wie der Anarchist sie da hingelegt hat. Das Publikum weiß, daß die Bombe um ein Uhr explodieren wird, und jetzt ist es 12 Uhr 55 - man sieht die Uhr -. Dieselbe unverfängliche Unterhaltung wird plötzlich interessant, weil das Publikum an der Szene teilnimmt. Es möchte den Leuten auf der Leinwand zurufen: Reden Sie nicht über so banale Dinge, unter Ihrem Tisch ist eine Bombe, und gleich wird sie explodieren! Im ersten Fall hat das Publikumm 15 Sekunden Überraschung beim Explodieren der Bombe. Im zweiten Fall bieten wir ihm 5 Minuten Suspense."
("Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?" von Francois Truffaut, München, 1973, S. 64)
 
Aufgaben für die Schüler:
Erklären Sie den Suspense in der oben erarbeiteten Sequenz!

Skizzieren Sie eine eigene kleine Handlung mit Suspense!
 

Fragen an die Schüler:
Wie löst man Suspense-Szenen auf? Darf die Bombe explodieren?

Wie arbeitet man auf einen Höhepunkt hin? Welche Bedeutung haben in dem Zusammenhang Verzögerungen?

"Wenn Sie eine gute Szene voll Suspense und stummer Erwartung haben, dann richten Sie sich majestätisch darin ein, mit sehr viel Atmosphäre, der Stil der Einstellungsfolge ist sehr persönlich, selten vorhersehbar und immer wirkungsvoll, das ist ein wenig Ihr Berufsgeheimnis. Ich denke da an das, was dem Schulschluß vorausgeht.
Schauen wir uns die Szene an, vor der Schule, wenn Melanie Daniels dasitzt und sich hinter ihr die Raben versammeln. Melanie, voll Unruhe, geht in die Schule, um der Lehrerin Bescheid zu sagen. Die Kamera geht mit ihr hinein, und kurz darauf sagt die Lehrerin zu den Kindern: "Ihr geht jetzt raus, und wenn ich es sage, rennt ihr los." Ich lasse die Szene weitergehen bis zur Tür. Dann schneide ich und zeige nur die Raben, alle zusammen und ich bleibe ohne Schnitt und ohne daß irgendetwas passiert dreißig Sekunden auf ihnen. Dann fragt man sich: Aber was ist mit den Kindern, wo sind sie? Und da hört man die Schritte laufender Kinder, die Vögel fliegen auf, man sieht sie über das Dach der Schule fliegen und sich auf die Kinder stürzen.
Die alte Suspensetechnik hätte die Szene stärker unterteilt. Zunächst hätte man die Kinder gezeigt, wie sie das Klassenzimmer verlassen, dann die wartenden Raben, die sich bereitmachen, dann die Kinder, wie sie aus der Schule kommen, dann die Vögel, die auffliegen, dann die Kinder, die losrennen und schließlich die Attacke auf die Kleinen. Aber das ist meiner Meinung nach ein veraltetes Vorgehen.
Aus demselben Grund bleibt die Kamera, wenn das Mädchen vor der Schule wartet und eine Zigarette raucht, vierzig Sekunden auf ihr. Sie schaut sich um und sieht einen Raben, sie raucht weiter, und als sie wieder hinschaut, sind schon alle Raben da."
(Der Text stammt aus "Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?" von Francois Truffaut, München, 1973, S. 287)
Hintergrund zum Film
Die Story geht zurück auf eine Kurzgeschichte von Daphne du Maurier. Der Film kam 1963 über Universal in die Kinos und dauert 120 Minuten. Regie Alfred Hitchcock, Kamera Robert Burks. Die Hauptrollen sind besetzt mit Tippi Hedren (Melanie Daniels - ein Playgirl, verwöhnte Tochter eines reichen Verlegers), Rod Taylor (Mitch Brenner, ein Anwalt), Jessica Tandy (die Mutter von Mitch Brenner, die eiferüchtig ihren Sohn vor Melanie bewahren möchte), Suzanne Pleshette ( die Lehrerin Annie Hayworth).
 
Im Internet fand ich folgende Seiten zu Hitchcock:

http://search.yahoo.de/search/de?p=Hitchcock
http://www.yahoo.co.uk/Entertainment/Movies_and_Film/Filmmaking/Directing/Directors/Hitchcock__Alfred/
http://nextdch.mty.itesm.mx/~plopezg/Kaplan/Hitchcock.html
http://nextdch.mty.itesm.mx/~plopezg/Kaplan/mov/hfilm.html
http://nextdch.mty.itesm.mx/~plopezg/Kaplan/mov/birdsf/birds.html

Bei SAN (Schulen ans Netz) gibt es eine zum Lernprogramm erweiterte Fernsehsendung zur Erzählform des Films
 http://lo.san-ev.de/_san_&_digivision.asp?ZuoAlt=4&IDSeite=S0100054JIMBO24081998