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Komposition
Musteranalyse der Komposition eines Bildes von J.A. Koch (1768-1839)
Joseph Anton Koch, "Der Schmadribachfall", 1821/22, Öl auf Leinwand, 131.8 x 110 cm, 
München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Neue Pinakothek
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von Ulrich Schuster
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Seit Beginn des 20. Jhs bezeichnen einige Maler, gelegentlich auch Bildhauer ihr Werk als "Komposition". Bei Kandinsky drückt dies u.a. den Verzicht auf ein literarisches Thema und die Fokussierung auf die bildnerischen Probleme des Bildgefüges aus. Komposition ist auch schon der Renaissance ein Begriff, allerdings mehr im Sinn der Erfindung einer geeigneten und angemessenen Bildordnung zu einem gegebenen Thema, einer Historia.
Der Begriff, der auch aus der Musik bekannt ist, enthält den lat. Stamm com-ponere = zusammensetzen, zusammenfügen. Ein Bild ist demnach insofern eine Komposition, als es ein Gefüge von Elementen, Bestandteilen darstellt.
Wenn wir die Komposition in Bildern untersuchen, dann ist es unser Ziel, dieses Gefüge in seine Bestandteile aufzulösen , um die Elemente selbst kennenzulernen und ihr Zusammenwirken untereinander und in Bezug auf die dem Bild zugrunde liegende Thematik zu studieren.
Für das Zusammenwirken der Elemente eines Bildes gibt es im Bereich der Kompositionslehre Regeln, Wertvorstellungen, die sich oft hinter dem Begriff Harmonie verbergen. Ein verschleiernder Gebrauch des Begriffs Harmonie widerspricht unserem Ziel, der Aufdeckung von Wirkungen. Deshalb empfehle ich, mit dem Begriff Harmonie sparsam umzugehen und stets nach den Mechanismen des Zusammenwirkens zu suchen und Argumente für dessen Bewertung immer gut zu begründen.
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Joseph Anton Kochs Bild entstand in den Jahren 1821/22. Es stellt eine dritte Gemäldefassung (spätestens 1806 entstand die Fassung aus dem Escorial, 1805/11 entstand die Leipziger Fassung) eines um 1793 bei einem Aufenthalt in der Schweiz entstandenen Aquarells dar. Das Hauptwerk Kochs ist gleichzeitig ein Schlüsselbild an der Nahtstelle zwischen Klassizismus und Romantik und kam nach München durch Ludwig I. 
Koch fand sein Motiv als er zu Fuß auf dem Weg nach Rom war, um dort bei Carstens ein Vorbild in der figürlichen Darstellung zu finden und von Lorrain und Poussin Anregungen für die Landschaftsdarstellung aufzunehmen. 
Vom alpenländischen Motiv her bewegt er sich eher in romantischem Gedankengut. Die ideale Landschaft bei Lorrain und Poussin ist weit entfernt von der Dramatik und Großartigkeit des Naturschauspiels, das uns der Schmadribachfall liefert. Allerdings genügt er in der Wirkung, die von den Interpreten mit Begriffen wie "erhaben" und "majestätisch" beschrieben wird, durchaus klassizistischen Anforderungen. Koch gilt in der Stilgeschichte als ein Vertreter der heroischen Landschaft.
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1. Die Auflösung der Flächenordnung des Bildes
Andy Warhol hat ein Bild einmal so charakterisiert: "Dieses Ding ist ein Ding, man nennt es Bild."
Nach diesem Motto betrachten wir Kochs Gemälde zunächst einmal als flaches Ding von bestimmter Ausdehnung, die wir als Format bezeichnen. 131 Zentimeter mal 110 Zentimeter im Hochformat sind die Abmessungen; das Ding hat damit eine überschaubare Größe, der man sich gern bis auf einen Abstand von ein bis zwei Metern nähert. Einige Details und die detaillierte Malweise insgesamt fordern einen heraus noch näher zu treten. Dazu weiter unten.
Wie wirkt das Format? 
Für eine Landschaft eher ungewöhnlich ist das Bild höher als breit. Landschaften darstellen bedeutet in der Regel zurücktreten von den Motiven im Nahbereich und den Blick in die Ferne richten. Landschaften wecken eher ein Bedürfnis nach Überblick, den man sich durch Schwenken des Kopfs in der Horizontalen verschafft, als sie diesen Überblick beengen durch Begrenzung des Blickwinkels. Koch führt unseren Blick nicht in die Weite sondern in die Höhe.Während sich ein "schwenkender" Blick an der Horizontalen orientiert, muß man bei Koch den Horizont erst mit einiger Mühe suchen. Er markiert statt dessen sehr deutlich die vertikale Bildmitte, aus der heraus sich der gewaltige Wasserfall in die Tiefe ergießt und die er weiter unten in mehreren schlängelnden Bewegungen wie einen Aaronstab umspielt. Man kann den Lauf des Wassers auch umgekehrt lesen. Dann führt der Fluß wie ein Weg durchs Bild unseren Blick in Schlangenlinien um die Bildmitte und in immer steiler werdenden Schwüngen den Berg hinauf zu seinem Ursprung bis unter den Himmel.
 
Das Hochformat zwingt uns vor dem Bild stehend unseren Kopf zu heben und zu senken, wir blicken auf zu der gewaltigen Erscheinung der Natur, die hier auf uns herabkommt. Das Heben des Kopfs assoziieren wir mit anderen Bedeutungen als das schweifende Schwenken. Wir blicken auf, empfinden uns selber als gering und klein, wenn wir den Blick und den Kopf senken, vollziehen wir Bewegungen, die einer Verneigung gleichkommen. Die Hängung im Museum nimmt dem Bild ein wenig von dieser Wirkung, indem sie den Betrachter deutlich über den Horizont des Bildes hebt. Um die Wirkung des Hochformats zu verdeutlichen habe ich das Bild im oberen Teil gestaucht und mit Unschärfe versehen. Dadurch rückt die Bildtiefe weiter von uns weg und der Nahbereich des Vordergrunds nimmt an Bedeutung zu. Die "Größe" und "Erhabenheit" wird dadurch weitgehend aus dem Bild eliminiert. Sie liegt also schon in der Wahl des Formats begründet.
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2. Die Auflösung der räumlich-illusionistischen Bildordnung
Das flache Ding, genannt "Schmadribachfall", liefert uns die Illusion einer fotografischen Aufnahme. Koch kannte die Fotografie noch nicht. Für ihn galt die Perspektive als gängiges Kompositionsprinzip für die räumliche Bildordnung. Alberti hat in der Renaissance das Bild beschrieben als ein "geöffnetes Fenster". Kochs Bild liefert uns die Illusion des Blicks durch ein geöffnetes Fenster ohne unser Auge entlang von Tiefenlinien, Fluchten durch den Raum auf einen Horizont zu führen.Die Berge verdecken den freien Blick auf einen Horizont, die Natur verweigert jede gerade Linie, Spur, an der entlang der Blick in die Tiefe gehen könnte. Den Horizont können wir dennoch erahnen, indem wir auf die mögliche Position eines realen Betrachters zurückschließen.  Ich vermute ihn etwa auf der Höhe des Hirten, also leicht über dem unteren Bildviertel. In der Klasse gab es dazu sehr unterschiedliche Vermutungen. Bei flacher Landschaft würde uns eine derartige Untersicht nur wenig Überblick gestatten. Im Gebirge, und ganz besonders bei Koch, ist dies anders.
 
Koch organisiert seinen Raum ganz im Sinn einer Bühne. Er staffelt die Tiefe in deutlich unterscheidbare Abschnitte, Bildgründe, Kulissen. Stärker als durch perspektivisch begründete Linien ist der Raum erschlossen durch Kurven, die Raumzonen begrenzen und sich entweder zur Bildmitte erheben oder absenken.
Ein flacher Vordergrund als Overtüre liefert den Spielboden für eine mögliche Handlung. Hier spielt sich Leben ab, Tier und Mensch, auch Bewegung durch den Bach haben hier ihren natürlichen Ort. Andererseits lagern am Rand des Bachs die Spuren einer ungebändigten, zerstörerischen Naturgewalt: herabgespülte Felsbrocken, angeschwemmte Baumstämme. Dahinter baut sich in zwei Staffeln der Mittelgrund auf; zunächst dunkel und verschlossen die Region des Waldes, die sich an den Bildrändern deutlich über die Bildmitte hinaus hochzieht. In einer weiteren Staffel türmt sich dahinter die Felsregion empor bis auf drei Viertel der Bildhöhe; karg, kahl und abweisend und sichtlich beherrscht durch die Gewalt des herabstürzenden Wasserfalls. Das letzte Viertel und majestätische Finale im Hintergrund gehört dem Gletscher und dem ewigen Eis, wobei der rechte und höhere der beiden Gipfel sich hinter Wolken unserem Blick entzieht.
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Proportion
Koch führt den Betrachter durch eine Verfälschung der Proportionen ganz nah an seine Kulissen heran. Ganz deutlich wird dies im Vergleich von Aquarell und Gemälde an der Figur des Hirten, die im Aquarell nahezu unbemerkt bleibt und im Ölbild auf mehr als doppelte Größe anwächst. Wie mit einem Zoomobjektiv läßt er die natürliche Distanz zwischen den Raumschichten schrumpfen. Das gibt vor allem der Felsregion eine schärfere und deutlichere Präsenz als man sie mit bloßem Auge vermutlich haben kann. In den Alpen kennt man dieses Phänomen auch durch den Föhn, der durch klare Luft Fernes in oft verblüffende Nähe rückt, wie eine Schülerin ganz richtig bemerkt.
 
Exkurs
Landschaftsmalerei stand in den Augen einer vom Idealismus geprägten Philosophie und Weltanschauung stets in zweifelhaftem bis niederem Ansehen. Das "Naturschöne" wurde unterschieden vom "Kunstschönen". Von der Kunst wurde erwartet, daß sie uns ein Ideal, eine Idee vor Augen führe, einen Geist, der in der individuellen und zufälligen Erscheinung der Dinge nur unzureichend repräsentiert sei. Die Idee sah man eher in der dargestellten Handlung, der Historia, als in der Landschaft selbst. Lorrain und Poussin entwickelten im 17. Jh aus diesem Denken heraus den Typus der "idealen Landschaft" , für die mythologische Themen die Vordergrundmotive lieferten und eine "arkadische Landschaft" aus Versatzstücken italienisch-römischer und griechisch-peloponnesischer Landschaftselemente komponiert wurde. Arkadien galt in der Auffassung des Idealismus als ein irdisches Paradies , weil es schon in der griechischen und römischen Dichtung wegen seiner urwüchsigen, bescheidenen Lebensverhältnisse, der guten Sitten und des stillen, genügsamen, erbaulichen Lebens den idealen Schauplatz für das mythologisch-religiöse Motiv der Pastorale (Hirte und Schafe) abgab.
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3. Die Auflösung der Farbordnung
Koch hat die Ölmalerei angeblich erst 1803 erlernt, also im stolzen Alter von 35 Jahren. Bei seinem Aquarell von 1793 bedient er sich einer wesentlich verschiedenen Farbigkeit. Beim Aquarell dominiert die Farbe Blau und vermittelt dem gesamten Bild eine kühle Grundstimmung bis hinein in die begrünten Zonen des Waldes und des Vordergrunds. Im Ölbild gibt Koch einem braunen Grundton in allen Bildzonen den Vorrang, was das Motiv in einem deutlich wärmeren Licht erscheinen läßt.
Ich habe beide Bilder auf die gleiche Größe gebracht und übereinander gelegt, sodaß sie bei Roll-Over mit der Maus nacheinander betrachtet werden können. Das macht nicht nur den farblichen Stimmungswechsel deutlich, sondern läßt auch sichtbar werden, wo Koch in seiner 2. Fassung von der Vorlage abgewichen ist. Erheblich scheinen mir neben der Farbgebung nur die motivischen Änderungen im Vordergrund, was im Ölbild den erzählerischen Charakter stärker betont. Im Mittelgrund hat Koch den Wald stärker verdichtet und verdunkelt, der im Aquarell durchlässig, von Lichtungen durchsetzt und transparenter wirkt. Die deutliche Zunahme von Blau in den tieferen Bildzonen rückt den Hintergrund stärker in die Ferne als dies beim Ölbild der Fall ist, wo der warme Grundton der Felsregion und selbst des Gletschers die Nähe unterstreicht, die im Format und im kulissenartigen Bildaufbau schon angelegt scheinen.
Abgesehen von dieser Akzentverschiebung bedient sich Koch einer Farbordnung, in der das lokale Kolorit sich einer farblichen Grundstimmung unterordnet, die lokalen Töne als Abkömmlinge eines beherrschenden Grundtons erscheinen. Solche Ton-in-Ton-Malerei läßt sich zurückverfolgen bis zu Anfängen bei Leonardo , der mit seinem Sfumato begann, die Bildtiefe hinter einem vereinheitlichenden Dunst farblich zu brechen. Bei Tizian und Rubens setzt sich diese Farbordnung fort und wird zur allgemeingültigen Lehre ausgebaut, die erst zum Ende des 19. Jhs außer Kraft gesetzt wird. Schon die Romantiker, und allen voran die Nazarener setzen dem vereinheitlichenden braunen Bildton  wieder ein verstärktes Lokalkolorit entgegen und kehren zu einer mittelalterlich anmutenden, kräftig-bunten und komplementären Farbgebung zurück, wofür uns Overbeck mit seinem Bild "Italia und Germania" ein Beispiel geliefert hat.
Auch bei näherem Betrachten der Details nehmen die lokalen Töne bei Koch kaum an reinbunter Kraft zu. Eine vereinheitlichende Lichtgebung, Stimmung, Tonigkeit herrscht bis ins Detail vor. Im Farbauftrag ist der Duktus selbst bei genauem Hinsehen kaum von Bedeutung. In transparenten Schichten, Lasuren, scheint sich Koch sehr langsam und diszipliniert dem gewünschten Ton anzunähern.
Woher kommt das Licht?
Wo die Sonne scheint, gibt es Schatten. Und an der Verteilung von hellen  und beschatteten Flächen, sowie an Schlagschatten, lassen sich die Beleuchtungsrichtung und Tageszeit ablesen. Bei Koch beherrscht ein relativ flaches Streiflicht von rechts die Szene, taucht die abgewandten Seiten der Felsen mit harten Kanten in ein nachmittägliches Dunkel. Am deutlichsten wird das Dunkel in der Waldzone, die nur noch in den Baumwipfeln das Licht fängt und in ihren Tiefen die Sonne verschluckt. Während im Aquarell der Vordergrund stark verschattet ist und nur die Wiese mit der Figur im Licht liegt, hat Koch in der Gemäldeversion den ganzen Vordergrund aufgehellt und die lichte Stelle für den Auftritt der Figur des Hirten genutzt.
 
Mit Vorsicht zu genießen!
Die Aussagen zur Farbgebung beruhen auf den Farben der vorliegenden Reproduktionen. Die Überprüfung der Abbildung aus unserem Schulbuch im Museum hat uns deutlich gemacht, daß auf den Druck kein Verlaß ist. Das Bild hat in der Reproduktion einen deutlich zu gelbbraunen Stich. Das Original ist satter in den Farben, das Grün kommt frischer, manche Details aus dem Vordergrund - ein Busch mit kräftig roten Blüten (eine Alpenrose?) - geht in der Reproduktion völlig unter. Allerdings ist das Original im Museum mit einer Glasscheibe geschützt und deshalb fotografisch für den Museumsbesucher nicht reproduzierbar. Der Versuch mit einer Digitalkamera ohne Blitz und ohne Stativ macht jedoch den völlig verschiedenen Farbcharakter des Originals schon spürbar. Man kann davon ausgehen, daß die farbliche Reproduktion in Büchern oder auch in Dias das Original nur entfernt wiedergibt. Für eine realistische Einschätzung der Bildgröße mag diese Aufnahme aus dem Museum hilfreich sein.
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4. Die Auflösung der gegenständlichen Bildordnung
Eine Landschaft, wie die Kochs, integriert verschiedene Themenkreise zu einem Bild von der Welt. Methodisch erscheint es sinnvoll diese wie Regionen in einer Landkarte zu benennen. Dadurch kann der Blick für das Ineinandergreifen von Themen entstehen. Von den zahlreichen Bildobjekten sollen hier einige für sich betrachtet und Ihr Beitrag zum Bildinhalt bedacht werden.
Motiv Wasserfall
Der Schmadribachfall liegt im hinteren Lauterbrunnental im Berner Oberland. In zwei Armen stürzen die Wasserfluten zu Tal und poltern im Talboden in einen Steinschlund. Für Landschaftsmaler der Romantik stellten die Wasserfälle rund um das Lauterbrunner Tal ein gesuchtes Motiv dar (Samuel Birmann, Alexandre Calame...). Im Katalog der Neuen Pinakothek ist der Blick genauer beschrieben: "..von Norden auf die Schmadrifälle...links das Schmadrihorn (3337m) und rechts das Lauterbrunner Breithorn (3782m) das hier nicht wirklichkeitsgetreu, ohne Schneekuppe, erscheint." 
Im Gegensatz zum Bach oder Fluß ist der Wasserfall ein Symbol entfesselter Natur. Je mehr im 19. Jh die aufkommende Naturwissenschaft den Begriff einer abstrakten, von Gesetzen durchdrungenen, beherrschbaren Natur vertritt, wächst in Literatur, bildender Kunst und der Phantasie der Menschen eine Vorstellung von ungebändigter, unbeherrschbarer Natur, die den Menschen und die Technik in ihre Schranken verweist.
Auch die individuelle Suche nach dem Erlebnis dieser Grenzen in einer ungebändigten Wildnis wird im späteren 19. Jh zu einem wesentlichen Motiv, weniger in der kunstgeschichtlich erfaßten Malerei als in einer z.T. bereits fotografisch, später filmisch arbeitenden Bildnerei und einer populären Literatur von Karl May über Jack London bis Edgar Rice Burrohghs.
 
Wie real ist Kochs Sicht?
Die nebenstehende Aufnahme war im Internet zu finden und zeigt, daß man dieselbe Sache offenbar auch ganz anders sehen kann. Der Fotograf hat eine Ansicht gewählt, die von dem durch Koch inszenierten Schauspiel so weit entfernt ist daß man annehmen möchte, es handle sich um zwei grundverschiedene Dinge. Er hat den Gletscher weggeschnitten und läßt das Wasser auch im unteren Bereich so weit vom Betrachter entfernt, daß uns die Macht der Naturgewalt weder physisch noch psychisch erreicht. 
Die Felsregion ist so stark abgedunkelt, daß das Schroffe und Zerklüftete untergeht und der obere Bereich des Bildes ist durch seinen grünen Bewuchs kaum vom unteren Teil zu unterscheiden. Wald und Bäume sind nur als grüne Masse auszumachen. So harmlos wie der Bach oben rechts ins Bildfeld läuft, rinnt er unten links wieder hinaus.
Rechts der Stechlberg mit Schmadribachfall im Hintergrund.
Berggasthaus Tschingelhorn-Laube mit Blick auf Schmadribachfall
Auch diese Aufnahme war im Internet zu finden im Kontext einer Tourismus-Werbung für Lauterbrunnen und zeigt den Stechelberg mit Blick auf den Schmadribachfall. Deutlicher als im vorhergehenden Bild wird eine Perspektive wie die von Koch erahnbar, wenn sich auch der oben formulierte Eindruck verstärkt, daß Kochs Bild die Tiefenstaffelung des Raums stark verkürzt um den Eindruck von Nähe und Monumentalität zu erzeugen.
 
Motiv Hirte
Das Motiv des Hirten sichert der idealen Landschaft ihren geistigen Anspruch. Landschaft erscheint einer von der Erfahrung städtischen Lebens geprägten Dichtung schon im Altertum als Gegenpol zur Zivilisation, Landleben als Inbegriff naturgemäßen Daseins. Die aus solcher Motivik heraus entstehende Hirtendichtung heißt bei den Römern "idyllum", woraus im 18. Jh in durchaus positivem Sinne unser Begriff Idyll gebildet wird als Bild friedlichen und einfachen ländlichen Lebens. 
 
Der Hirte(lat. Pastor), besitzt  in der christlichen Mythologie symbolische Bedeutung, wird in biblischen Gleichnissen verwendet zur Charakterisierung der Rolle der Kirche gegenüber der Kirchengemeinde. "Weidet meine Lämmer" lautet die Botschaft, die Christus den Aposteln als Auftrag mitgibt. Irdisches Paradies und pastorale Fürsorge lassen die Landschaft als Sinnbild erscheinen. Diesen Sinn vermißt das Publikum in den vom Naturalismus, Realismus, Impressionismus geprägten Landschaften, aus denen der Mensch entweder ganz verschwindet oder unter dem Licht des harten Existenzkampfs gegen die Natur gezeigt wird.
 
Motiv Tiere
Schafe passen nicht in die karge Gebirgsregion. Koch vergeht sich nicht an der alpenländischen Tierwelt und wählt die Ziegen. Ganz vorne setzt er an exponierter Stelle einen Vogel (Ente?) ins Bild und signalisiert dem Betrachter damit, daß hier die Gewalt des Wassers so weit gebändigt ist, daß es Leben nicht nur zuläßt, sondern spendet. Alle größeren Lebewesen im Bild sind nach rechts orientiert, wenden sich der Sonne als dem Licht- und Wärmespender zu. Licht und Wasser sind in ihren Richtungen entgegengesetzt. Der Bach geht nach links von der Bühne ab. Das Licht tritt von rechts auf.
 
Motiv Verfall
Das Wasser als lebenspendende Kraft wurde schon angesprochen. Im Vordergrund von Kochs Bild zeigt es sich auch von seiner zerstörerischen Seite. Zentral im Vordergund steht die Ruine eines Baums, links vorne, wo der Bach das Bild verläßt liegen am Ufer angeschwemmte Baumstämme. Ruinen, verwitterte und vom Leben gezeichnete Bäume spielen in romantischen Bildern immer wieder eine tragende Rolle als Zeichen für Werden und Vergehen als natürlicher Kreislauf. 
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5. Interpretation
In der Diskussion um diesen Zusammenhang zwischen Leben und Vergehen, Ursprung und Ende hat ein Schüler im Unterricht die These aufgestellt, daß das Bild, und insbesondere der Bach, auch ein Gleichnis  für den Prozeß des Lebens sei. Er nimmt seinen Ursprung aus einer natürlichen Kraft, die wir mit dem Himmel in Verbindung sehen, wächst aus mehreren, scheinbar unerschöpflichen Quellen gespeist an zu einer ungestümen, kaum zu bändigenden Gewalt, die selbst den schier unzerstörbaren Fels zerschneidet, schleift, bewegt, wegschwemmt, speist im weiteren Verlauf die Natur an seinen Ufern zu üppigem Wachstum und reißt alles mit, was sich seinem Strom widersetzt. Darin mag man auch auch eine Metapher der Revolution entdecken, die über Kochs Generation wie ein Naturereignis gekommen sein mag. Erneuernd aber auch vernichtend aber in jedem Fall reißend.
Ich glaube, diese Interpretation hätte manchem Bewunderer Kochs gut gefallen.
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Diese Musteranalyse wurde mit dem Ziel durchgeführt den Schülern des LK ein kategoriales Raster zur Verfügung zu stellen, mit dem sich eine große Zahl von Bildern des 19. Jhs auflösen und in ihren Bestandteilen betrachten lassen. Aus diesem Grund ist hier eine Checklisteangefügt, die diesem Raster entspricht und es um Problemfelder bereichert, die im vorliegenden Beispiel keine, oder nur eine untergeordnete Rolle spielen.
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Erläuterungen/Ergänzungen:

Joseph Anton Koch: Lebenslauf

Eigene Äußerungen Kochs zu diesem Bild und seinen Motiven

Wie kam das in Rom gemalte Bild eines alpenländischen Motivs nach München ?

Was versteht man unter idealer Landschaft ?

Wo findet man die ideale Landschaft?

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Literatur:

Hilmar Frank, "Joseph Anton Koch Der Schmadribachfall", Fischer Kunsstück 1995
Ulrich Hellmann, "Warum ein Maler die Alpen malt", in "Kunst&Unterricht"
Matthias Eberle, "Individuum und Landschaft", Gießen, 1980
Klaus Lankheit, "Revolution und Restauration" ,  Köln, 1988