Wo nimmt Manet Anleihen und verändert sich dadurch der Blick auf sein Thema?
Manets Bilder werden in der Kunstgeschichte mit zahlreichen Vorbildern in Verbindung gebracht. Das unterscheidet ihn erheblich von den Impressionisten, die eher mit dieser traditionellen akademischen Praxis brachen. Das macht den Skandal, den Manet auslöste nur noch schwerer verständlich, denn es stellt seine Denkweise in einen engen Zusammenhang mit dem Vorgehen der akademischen Maler. Die Akademische Malerei des 19.Jhs greift in ihren Motiven mit voller Absicht auf große Vorbilder zurück und ein kunstverständiges Publikum weiß dies zu schätzen. Die Fähigkeit zu zitieren gilt als Ausweis gehobener Bildung, das ist auch heute im wissenschaftlichen Betrieb noch so.

Ein Schäferstündchen?
Manets "Frühstück" wird z.B. mit Giorgiones / Tizians Gemälde "Ländliches Konzert" in Verbindung gebracht. Auch hier haben wir es zu tun mit einer schwer deutbaren Situation. Warum ziehen sich die Damen beim Musizieren aus? Warum sind die Musikanten von der Nacktheit der Frauen so wenig berührt. Der Hintergrund mit Schafen und Hirte macht aus der Situation ein "Schäferstündchen", die Damen scheinen sich eher für den Betrachter entkleidet zu haben als für ihre Begleiter im Bild.

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Flußgötter?
Ein Druck des Kupferstechers Raimondi (Anf. 16. Jh) reproduzierte noch zu Lebzeiten Raffaels ein Gemälde von seiner Hand. "Urteil des Paris" ist das Thema, an dessen rechtem Rand sich drei Personen in verblüffend ähnlicher Gruppierung und Pose finden, wie im "Frühstück". Das legt die Vermutung nahe, daß Manet in seinem Bild nichts dem Zufall überließ, sondern ganz im Sinn akademischer Malerei sein Thema und seine Komposition in den historischen Vorbildern suchte und fand. Das fügt dem Skandal noch eine besondere Note hinzu: Manet banalisiert in den Augen seiner Zeitgenossen große Motive und reife Bilderfindungen der traditionellen Kunst, indem er sie aus der hehren, feierlichen Aura in die Niederungen bürgerlichen Alltags zieht. Das nennt man einen Frevel und solche Aufregungen kennt man auch heute noch. Inhaltliche Umdeutungen hinterlassen im "Zitat" stets ihre Spur als geistige Anleihe. Wer das nicht will, darf nicht zitieren. Manet bringt bewußt sein Bild in Zusammenhang mit Raffael und dem Urteil des Paris.

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Vorbilder als Legitimation?
Bei figürlichen Darstellungen gibt es seit der Antike einen Kanon für Haltungen, Gesten, Positionen, Gruppierungen. Die Renaissance hat in vielen Figurenbildern dieses Repertoire erweitert und verfeinert, aber immer wieder auf klassische Vorbilder zurückgegriffen. Dementsprechend gab es für die Künstler folgender Generationen ein wachsendes Repertoire an guten, bewährten Haltungen, Posen, auf die man für eigene Zwecke zurückgreifen konnte. So hat man auch Raffaels 'Flußgötter' auf einem etruskischen Sarkophag aus der Villa Medici in Rom entdeckt. An zentraler Stelle der Sixtina hat sich auch Michelangelo eines bewährten Musters bedient und damit selbst wieder einen Standard geschaffen, an den sich zukünftige Malergenerationen halten konnten. Sein Adam nimmt eine Haltung auf, die wie das klassische Stehmotiv des Kontrapost als ein klassisches Liegemotiv bezeichnet werden kann. Wenn man die Pose einmal selbst versucht nachzumachen, stellt man leicht fest, daß sie zwar malerisch, aber längst nicht so bequem ist, wie sie aussieht, weil Oberkörper und Becken sich nicht gern gleichzeitig so frontal ausrichten lassen. Jedenfalls konnte sich Manet auch bei Michelangelo bedienen, was seine so zivilisiert verkleidete Figur auch als Abkömmling des Adam enttarnt und das "Frühstück" thematisch in Richtung eines 'irdischen Paradies' rückt.
Es braucht keine allzu große Phantasie, um das Zitat ausfindig zu machen. Tatsächlich verändert der Vergleich unseren Blick auf das Bild sofort und erheblich.Wir sehen hier auf einmal ein christlich - mythologisches Thema profanisiert, banalisiert. Das kennt man heute hinlänglich aus der Werbung. 
Liegt etwa Manets Bild auch auf dieser geistigen Ebene?