Luitpold-Gymnasium München                                                             Leistungskurs Kunsterziehung
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Die Zeichnung
Elementare Kategorien zum Verständnis und zur Beschreibung von Zeichnungen

von Uli Schuster

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Im Kategoriensystem, mit dem die Gattungen der bildenden Kunst im 19. Jh bezeichnet werden, nämlich  Architektur, Plastik, Malerei, findet sich die Zeichnung wie auch die Druckgrafik nicht. Das hängt damit zusammen, daß man ihre Aufgabe vorwiegend innerhalb der genannten Gattungen gesehen hat und sie als Dienerin und Fundament all dieser bildenden Künste betrachtete. Aus diesem Blickwinkel heraus sprach man der Zeichnung in der Vorbereitung, im Werkprozeß von Architektur, Malerei, Plastik wesentliche Funktionen zu. Erst das 20. Jh gelangt zu einem Verständnis der Zeichnung und Grafik als einer
autonomen, eigenständigen Gattung. 
In der akademischen künstlerischen Ausbildung wie auch der schulischen Kunsterziehung spielt die Zeichnung seit jeher die tragende Rolle. 
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1. Funktionen der Zeichnung im Werkprozeß
Die Fachsprache stellt uns mehrere Begriffe zur Verfügung, die es zu unterscheiden gilt:
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Die Skizze
Der Ausdruck stammt offenbar aus dem Italienischen und bedeutet soviel wie 'Spritzer'. Damit wird der Aspekt der schnellen, flüchtigen zeichnerischen Notiz betont. Auch wenn es dabei nur um ein Fixieren einer Idee geht, kann diese  schon bezogen sein auf verschiedene Komponenten eines Themas, eines Motivs oder eines anderen Teilaspekts des beabsichtigten Werks. So kann die Skizze einer Figur deren Haltung, Proportion, Gruppierung im Verbund mit anderen Figuren, Komposition im Bildzusammenhang, sogar Farbigkeit betreffen. Schon an der ersten Notiz einer Idee läßt sich oft ablesen, was dem Zeichner wesentlich erschien, ihn veranlaßte, den Einfall, die Beobachtung zu notieren. Eine Skizze muß noch nicht unbedingt hohe zeichnerische Qualität aufweisen. Die nebenstehende Skizze wird z.B. Michelangelo zugeschrieben und zeigt ihn selbst als Freskenmaler an der Decke der Sixtina arbeitend. Skizzen sind meist von besonderer zeichnerischer Großzügigkeit und Freiheit. Das kann wie in diesem Fall unbeholfen wirken, in anderen Fällen aber auch eine große zeichnerische Sicherheit schon in der knappsten Darstellung offenbaren.
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Die Studie
Bei der Abbildung handelt es sich um den Ausschnitt einer Studie von Raffael zu seinem Fresco "Schule von Athen". Raffael legte jeder seiner Gewandfiguren eine Studie nach dem unbekleideten Modell zugrunde und begründete damit eine Tradition, die bis ins 19. Jh für die Historienmalerei als Standard galt. Der Ausdruck kommt vom lateinischen studere mit der Bedeutung lernen, üben. Deutlicher als im Wort Skizze steht der zielgerichtete Aspekt hier im Vordergrund. Die Studie versenkt sich in Einzelprobleme ihres Objekts. Beispiele dafür sind Proportionen, die Anatomie, der nackte menschliche Körper (Aktstudie), der bekleidete Körper (Gewandstudie), Haltung und Bewegung der menschlichen Figur, die Draperie (Faltenwurf), die Perspektive (Raumkonstruktion), die Farbe, die Komposition. Oft vermengen sich in einer Studie mehrere der genannten Zielaspekte, meist arbeitet die Studie die Zielaspekte in großer Deutlichkeit und vereinfachend heraus, unterdrückt dabei die reale Komplexität eines Studienobjekts.
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Der Entwurf
Dieser Ausdruck betont die Nähe zu einem geplanten Werk. Im Entwurf werden Aspekte der Fertigung in den Vordergrund gerückt, durch den Grad der Ausformulierung entschieden und festgelegt. Das bedeutet oft maßstäbliche Ausarbeitung, kompositorische Festlegung auf ein Format, Klärung von Umrissen, Lichtführung, Farbgebung. In der Architektur wird der Entwurf auch als Plan bezeichnet und stellt das Vorhaben als Grundriß und als Aufriß vor.
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Der Karton
Der hier gezeigte Ausschnitt aus dem Karton zur "Schule von Athen" zeigt, wie Raffael die oben abgebildete Studie weiterverarbeitet hat. Bei Rollover wird darüber hinaus die entsprechende Stelle am Fresco sichtbar.Als Karton bezeichnet man allgemein die in der Malerei der Renaissance in Gebrauch gekommene Entwurfszeichnung für ein Fresko (später auch für ein Tafel- oder Leinwandbild) im Maßstab 1:1, und mit ausgearbeitetem Hell/Dunkel. Der Karton gibt endgültige Anweisungen des Autors für die bildliche Darstellung auf der Wand. Der Karton war in der Malerwerkstatt immer von der Hand des Meisters. Für die Übertragung auf die Wand oder Bildtafel konnte er mit einem Quadratnetz versehen sein, meist jedoch stellt er im Malprozeß ein echtes Verbrauchsprodukt dar. Zum Übertrag der Zeichnung auf die Bildfläche konnte er auf der Rückseite eingefärbt werden. Üblicher war es, den Karton in Tagewerke zu zerschneiden, die Hauptlinien zu perforieren und durch die Löcher der Perforation mit Kohle- oder Kreidestaub die Form zu übertragen. Damit wird der Karton zerstört. Da schon die Renaissance die Zeichnung von Meisterhand als Studienobjekt außerordentlich schätzte, wurden gelegentlich vor Gebrauch Kopien angefertigt. Beispiel: Raffaels Karton zur "Schule von Athen". Der hier abgebildete Karton ist demnach eine Werkstattkopie des Originals und vermutlich nicht von Raffael selbst gezeichnet.
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Die Vorzeichnung
Skizze, Studie, Entwurf, Karton können als Vorzeichnung bezeichnet werden, insofern sie Stadien darstellen, die einem Bildwerk vorausgehen. Im engeren Sinn kann als Vorzeichnung auch das gelten, was durch Übertragung eines Entwurfs auf einen Bildgrund oder einen Bildhauerblock gezeichnet wird. Diese Vorzeichnung ist in der Malerei wie in der Bildhauerei ein im Werkprozeß meist verschwindender Teil. Während er am Stein oder Holz abgeschlagen wird, verschwindet er in der Malerei unter den Farbschichten und kann nur durch deren Abtragung oder Durchleuchtung (z.B. mit Röntgenstrahlung) sichtbar gemacht werden. Dem Restaurator wie dem Kunsthistoriker liefert eine solche Werk- oder Vorzeichnung wichtige Erkenntnisse über den Herstellungsprozeß, über Korrekturen, spätere Hinzufügungen etc...
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Die Nachzeichnung
Zeichnungen wie Gemälde spielten in der Ausbildung der Künstler als Studienobjekte und Vorlagen immer schon eine bedeutende Rolle. Der Ausdruck 'Nachzeichnung' weist hin auf ein solches Vorbild. Nachzeichnungen sind von bedeutenden Künstlern erhalten, so beispielsweise von Rembrandt nach Leonardo, von Dürer nach Mantegna, von Manet nach Tizian, von Picasso nach Manet. Ziel einer solchen Übung konnte das Studium einer Bildidee, einer Künstlerhandschrift sein aber auch die Absicht, eine Bildidee zu übernehmen, umzugestalten, zu paraphrasieren oder auch etwa als Druckgrafik oder Gemälde zu reproduzieren. Hier haben wir es zu tun mit einem Stich nach Raffaels Fresko "Schule von Athen". Der Stecher war Giorgio Ghisi und der Stich entstand 1550, also rund 40 Jahre nach Raffaels Fresco. Der Stich hat nicht unwesentlich zum Ruhm Raffaels beigetragen, indem er das Bild aus den vatikanischen Papstgemächern überall in Europa den Künstlern zugänglich machte. Eine Nachzeichnung ist immer auch eine Interpretation eines Werks. Ghisi z.B. hat das oben in ein rundes Bogenfeld eingepaßte Fresko in ein rechteckiges Format umgewandelt. Die Übersetzung in eine lineare Drucktechnik hat ihn zu scharfen Konturen gezwungen. Auf Farbe mußte er verzichten und die Modellierung ist erheblich kontrastreicher ausgefallen wie im Original.
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2. Funktionen der Linie
 
Die zeichnerische Linie kann stets in drei Richtungen betrachtet werden: als Spur eines zeichnenden Subjekts, als Spur eines Zeichen gebenden Materials auf einem Zeichengrund und als Bedeutungsträger für einen über sich selbst, das Zeichenmaterial und den Zeichner hinausweisenden symbolischen Gehalt, z.B. eine gegenständliche Form.
Als Kontur bezeichnet man die eine Form umschreibende Linie. Eine Lineatur innerhalb einer bezeichneten Form nennt man Binnenlinie. Ein solches System von Binnenlinien ist die Schraffur, die gleichermaßen formgebend wie Helligkeit bezeichnend sein kann.
Es erscheint mir sinnvoll, drei Dimensionen der gezeichneten Linie, dem gezogenen Strich zu unterscheiden: Faktur, Textur und Struktur.
  • Faktur  (von facere=machen) haftet jedem Strich insofern an, als er auf eine zeichnende Hand, ein zeichnendes Subjekt und seinen Duktus, Bewegungsausdruck verweist. Faktur haftet der Linie auch an als Charakteristik eines spurgebenden Materials auf spuraufnehmendem Grund.
  • Textur  (lat. Gewebe, Geflecht) entsteht durch Bündelung von Linien, Strichlagen, Systematisierung, Rhythmisierung  von Abständen, Längen, Winkelungen, Richtungen, Schwellungen, Biegungen...Im Liniengeflecht lassen sich Ausdruckswerte herstellen, die auf ein Objekt und seine Oberflächenbeschaffenheit bezogen sein können. Soll eine Lineatur die Oberfläche eines Gegenstands charakterisieren, so sucht der Zeichner an dieser Oberfläche nach Merkmalen, die sich als Strich, Strichbündel, Fleck, Punkt wiedergeben lassen: Falten, Risse, Kanten, Maserungen, Haare, Fasern etc...
  • Struktur  bezeichnet eine Linie dann, wenn sie Eigenschaften eines Objekts wiedergibt, die an seiner Oberfläche für gewöhnlich nicht direkt ablesbar sind, wenn sie verdeckt liegende Objektteile oder Eigenschaften sichtbar macht, Körperschnitte, Wölbungen, Gliederungen darstellt, die am Objekt mehr gedacht werden müssen als unmittelbar gesehen werden können. Solche strukturierenden Linien können für die illusionistische Wirkung einer Zeichnung als Seh- und Lesehilfen von erheblicher Bedeutung sein, bedürfen jedoch auf Seiten des Zeichners wie auf Seiten ihres 'Lesers' eines Verständnisses für zeichnerische Konventionen. Horizont und Fluchtlinien, Schnittlinien, Formlinien und Proportionslinien gehören zu den strukturierenden Linien.
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    3. Die Zeichenmittel
     
    Pastellkreide
    Graphit
    Kohle
    Prinzipielle Verschiedenheiten machen es sinnvoll zwischen  selbstschreibenden  und  übertragenden  Zeichenmitteln zu unterscheiden. 
  • Selbstschreibend sind alle Stifte, die aus einem Material bestehen, das eine Spur abreibt. Ihre Charakteristik zerfällt in dünn und hart- ( Silberstift, Bleistift, Graphitstift ) sowie breit und weich zeichnende Stifte ( Kohle, Kreide Rötel ).
  • Übertragend sind die Zeichenmittel, die nicht selbstfärbend sind, sondern flüssige Farbe übertragen: Federn und Pinsel. Als Farben dienen traditionell Tinten und Tuschen sowie dünn verflüssigte Leim- oder Temperafarben.
  • Der Zeichengrund
  • Jedes Zeichenmittel entwickelt seine eigene Charakteristik, Faktur stets im Zusammenspiel mit dem passenden Zeichengrund, dem Material, auf dem gezeichnet wird. Vor der Verbreitung des Papiers seit dem 14. Jh war die Zeichnung auf Tierhaut, Pergament eine aufwendige und teuere Angelegenheit. Papier war anfangs recht weich in der Oberfläche und wurde wie Holz und Leinwand als Malgrund zunächst grundiert. Der harte Silberstift färbt nur auf grundiertem Papier ab, weiche Oberflächen würde er aufreißen. Auch die Feder verlangt ein hartes Papier mit glatter Oberfläche. Im Gegensatz dazu fordern weich zeichnende Stifte wie Kohle und Kreide einen rauhen, faserigen Zeichengrund sowie eine nachträgliche Fixierung des zum Teil nur lose auf dem Zeichengrund haftenden Farbmittels.
    Jedes Zeichenmittel besitzt seine charakteristische Färbung, die gelegentlich auf einem gefärbten Zeichengrund besser zur Geltung kommt als auf weiß gebleichtem Papier. Wenn auch meist mit dunkler Spur auf hellem Grund gezeichnet wird, ist insbesondere für den Zweck der Helldunkel-Studie eine Mittlere Tönung vorzuzienen, die es erlaubt sowohl die Dunkelheiten, Schatten zu bezeichnen (schattieren), als auch die Helligkeiten, Lichter (höhen). Das führt häufig zu einer Mischtechnik mit verschiedenen Zeichenmitten.
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    4. Autonomie der Zeichnung
     
    Man wird dem künstlerischen Wert der Zeichnung nicht gerecht, wenn man sie insbesondere in Bezug auf die Malerei auf ihre vorbereitende Funktion hin betrachtet. Die Frage nach der Entstehung des Kunstwerks führte schon die Kunsttheorie der Renaissance zu der Feststellung , daß die Zeichnung die erste und unmittelbarste Formung der künstlerischen Absicht darstellt. Deutlicher als das fertige Werk gibt die unmittelbare Niederschrift der Zeichnung die Absichten, Beweggründe, Entscheidungsvorgänge und das gestisch-emotionale Vokabular, Ausdrucksrepertoire des Autors wieder. Mit gutem Recht kann man behaupten, daß die Zeichnung den neuzeitlichen Künstlertyp erst hervorgebracht hat. Viele Zeichnungen seit der Renaissance entstanden ohne eine funktionale Absicht und werden als autonome Zeichnungen angesehen.
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    5. Zeichnung und Kunstlehre
     
    In der künstlerischen Ausbildung spielte die Zeichnung offenbar seit jeher eine bedeutende Rolle. Vor der Verbreitung des Papiers zeichnete man in der Werkstatt auf Wachstäfelchen, grundierte Leinwand oder grundierte Holzplatten. Mit dem Entstehen der Kunstakademien im 16./17. Jh wurde die Zeichnung als Instrument der Kunstlehre systematisch entwickelt. 
    Der Aufbau der Lehre sah an unterster Stelle das  Zeichnen nach der gezeichneten Vorlage , dem Musterbuch, der Meisterzeichnung vor. 
    Von höherer Schwierigkeit wurde das Zeichnen nach dem plastischen Vorbild , insbesondere nach Gipsabgüssen, Gliederpuppen=Manichini, Draperien angesehen. Dazu legten die Akademien Sammlungen von Modellen (z.B. Anatomiepräparaten ) und Gipsabgüssen an, mit besonderer Vorliebe für die griechische Antike und ihre römischen Repliken.
    Eine Steigerung der Schwierigkeit wurde im  Zeichnen nach der Natur  und dem lebenden Modell gesehen. Insbesondere der  Akt  wurde zum Inbegriff akademischer Kunstlehre. Von Raffael bis zu David reicht die Tradition, Figuren und -gruppen für Historienbilder aus der Aktzeichnung heraus zu entwickeln und sie erst im zeichnerischen Endstadium mit den Accessoirs der Gewandfigur zu versehen.
    Zum gehobenen zeichnerischen Niveau wurde die Komposition gerechnet, die zunächst räumliche Konstruktion nach den Regeln der Perspektive bedeutete. Innerhalb der geometrisch-konstruktiven Zeichnung gibt es unterschiedliche Schwierigkeitsgrade von der flächigen Geometrie und den Proportionsgesetzen zur räumlichen Geometrie und Perspektive, vom einzelnen räumlichen Objekt zum komplexen architektonischen Prospekt.

    Siehe dazu die Kupferstiche von Philipp Galle 'Color Olivi' 
    und von Pietro Francesco Alberti, 'Academia d'Pitori'

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    Auf dem Gang im Schulhaus kann man sich ausbreiten. "Tanzende Figuren" mit Kohle und Kreide auf graues Packpapier gezeichnet. Schüler des LK Kunst in der 12. Jgst., Bea, Eveline, Markus und Mey
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    Literatur: 
    Walter Koschatzky, 'Die Kunst der Zeichnung' (dtv 2867)
    Nerdinger, 'Elemente künstlerischer Gestaltung' S. 197 - 204
    (3) Asemissen/Schweikhart, 'Malerei als Thema der Malerei' S. 106-114 

    Angewandte Übung: Beschreibung einer Zeichnung von Michelangelo