Leistungskurs Kunsterziehung
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Zwei Skandalbilder des 19. Jhs
Der Maler Edouard Manet und zwei seiner Bilder stehen in den 60er Jahren des 19. Jhs im Mittelpunkt von Kunstskandalen. Das wirft ein Licht auf die veränderte ökonomische Situation der Künstler, die Besucher der Pariser Salons und ein sich anbahnendes Mißverständnis zwischen der Kunst und ihrem Publikum.
von U. Schuster
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Da die bildende Kunst im 19. Jh weitgehend ihrer vormaligen Auftraggeber (Kirche, Könige, Fürsten, Adel) verlustig geht, spielt das Ausstellungswesen (Museum, Salon, Kunsthandel) eine wachsende Rolle. Der alljährlich stattfindende Salon ist in Paris und vielen europäischen Kunstzentren eine Einrichtung von erheblicher kultureller Bedeutung. Veranstalter ist die Academie Royale, die auch die Jury stellt. Die ordentlichen Professoren der Akademie sind frei von der Jurierung während andere Künstler, die hier ausstellen wollen, ihre Arbeiten der Jury vorlegen müssen. Dabei ist der Salon als öffentlicher Kunstmarkt vor allem für die Künstler interessant, die sich ihr Publikum und ihre Käufer suchen müssen und nicht wie die Professoren der Akademie den Rang und das Auskommen von Kunstbeamten genießen. Bei einem wachsenden Künstlerproletariat führt das zu erheblichen Spannungen. Im Jahr 1863 erreichen die Proteste der Refusierten eine derartige öffentliche Resonanz, daß sich Napoleon III. entschließt, einen Salon des Refusés einzurichten. Seitdem ist die Spaltung der Kunst öffentlich augenfällig in eine akademisch anerkannte- und eine Protestkunst. Die Protestierer finden sich im Café Guerbois zusammen und bilden ein Gegenmilieu zum offiziellen Salon, aus dem heraus sich die Impressionisten zu einer Gruppe formieren. Im Salon der Zurückgewiesenen sind 1863 von den über tausend zurückgewiesenen Werken immerhin 700 ausgestellt, darunter ein Werk, das in unserem Blick auf das 19. Jh einen bedeutenden Platz einnimmt, Manets "Frühstück im Grünen"

Manets Auge Erster Fall

"Ein Künstler muß sich in seiner Zeit bewegen und malen, was er sieht!"(Manet). Dieser Satz Manets kommt einem bekannt vor. Solches kennt man schon von Courbet. Der Tendenz nach klingt hier ein Programm des Realismus an. Was sieht Manet?
Auf einer Lichtung im Wald sitzen zwei bürgerlich gekleidete Herren mittleren Alters in Begleitung zweier Damen. Im Gegensatz zu den bekleideten Männern hat eine der Frauen, die im Vordergrund bei den Männern sitzt, ihre Kleidung völlig abgelegt, während die andere im Hintergrund immerhin noch im Unterkleid Erfrischung durch ein Fußbad in einem Gewässer sucht. Neben der Badenden liegt am Ufer das Gewässers ein Ruderboot, mit dem die Gruppe offenbar an diesen Ort, eine 'Insel der Seligen'? gekommen ist. Diagonal gegenüber in der linken unteren Ecke sehen wir auf den abgelegten Kleidern und dem Strohhut der Frau einen geflochtenen Korb, aus dem heraus Bestandteile einer Brotzeit, Früchte, Brot und eine Flasche oder metallisch glänzende Dose auf den Waldboden gepurzelt sind. Mit einem Wort läßt sich die Situation beschreiben als ein Picknick, also feiertägliche, bürgerlich-städtische Freizeitbeschäftigung. Ein neues Bildmotiv? Das Bild hieß ursprünglich "Le bain" und wurde schon bald umgetitelt in "Le déjeneur sur l'herbe". Ist es für das Thema unerheblich, ob wir an ein Bad oder an ein Picknick denken?
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Worin liegt der Skandal?
Es ist sicher nicht ganz einfach, die Gefühlslage der Pariser Bürger im zweiten Kaiserreich und nach einer Epoche der Restauration unter Napoleon III. nachzuvollziehen, aber einige Steine des Anstoßes lassen sich denken: Im Salon darf der bürgerliche Besucher auch Nacktes erwarten. Der Akt ist ein Thema der Malerei und der Plastik für das man auch im 19. Jh die Legitimation durch die klassische Kunst hatte. Sogar im kirchlichen Umfeld bot die Darstellung des Schöpfungsakts (daher der Begriff!) oder auch die Darstellung der Sünde (Paradies, Jüngstes Gericht) aber auch der Reue (Maria Magdalena) hinreichend Gelegenheit zur Darstellung des nackten männlichen und weiblichen Körpers. Aber genau dort mag ein Stein des Anstoßes liegen: Nacktheit braucht ein moralisierendes oder zumindest mythologisch - literarisches Umfeld, in das eingebettet sie legitim erscheint. Eben diese Legitimation liefert Manet nicht, wenn er das Bad und den nackten weiblichen Körper in einem banalen bürgerlichen Rahmen präsentiert und damit für die Augen des Publikums in die Niederungen von Alltäglichkeit und Banalität herabzieht. Ihm geht es um Natürlichkeit und um modernes Leben. Er legitimiert die Nacktheit als naturgegeben und naturverbunden und macht sich damit lustig über herrschende Moralvorstellungen und um geltende Konventionen von Sittlichkeit.
Es ist nicht ungewöhnlich, daß der Betrachter eines Bildes vom Maler als Zuschauer in das Bildgeschehen einbezogen wird. Das Kompositionssystem der Perspektive definiert in jedem Bild durch Horizont und Fluchtpunkt die Position des Betrachters zur Bildebene. Aber der direkte Blickkontakt, den hier die rothaarige(!) Nackte einigermaßen unbekümmert und sogar leicht amüsiert zum Betrachter aufnimmt, muß den Besuchern des Salons als anzüglich und dreist erschienen sein. Die Kaiserin Eugenie, die mit ihrem Gemahl die Ausstellung besuchte, war empört und fand das Bild "schamlos".
Der Kontrast zwischen den bekleideten Herren und den entkleideten Damen läßt den Betrachter Vermutungen anstellen über das Vorgeschehen und das Nachgeschehen der dargestellten Handlung. In diesem Zusammenhang mag als irritierend empfunden worden sein, daß sehr schnell öffentlich bekannt wurde, welche Personen im Bild dargestellt waren. Victorine Meurant war in Malerkreisen als Berufsmodell bekannt. Wenn eine Frau sich als Modell auszieht, kommt sie auch heute noch leicht in den Geruch einer ehrlosen, unmoralischen Person. Die zweite Frau ist nicht zu erkennen, aber die beiden Männer waren schnell identifiziert als Bruder Gustave Manet und der holländische Bildhauer Ferdinand Leenhoff. Letzterer war der Bruder der Pianistin Suzanne Leenhoff, mit der Manet im Alter von 17 Jahren ein uneheliches Kind gezeugt hatte, das er seinem Vater, einem hochrangigen Finanzbeamten der 1862 gestorben war, zehn Jahre lang hatte verschweigen können. Genug Stoff für eine zweifelhafte sittliche Einstellung des Malers, die man nun auch aus dem Bild herauszulesen glaubte.
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Ein irdisches Paradies?
Im etruskischen Museum von Rom, der Villa Giulia, wird ein Sarkophag aus dem 6. Jh v.Chr aufbewahrt. Der Deckel ist plastisch ausgeformt und stellt ein halb sitzendes, halb liegendes Paar dar. Ein heiterer, vergeistigter Ausdruck liegt auf den Gesichtern, während die Hände in eindeutigen Gesten auf eine Mahlzeit hinweisen, die man gerade zu sich nimmt. Ein Picknick? So stellten sich die Etrusker vor zweieinhalbtausend Jahren das Jenseits vor, ein niemals endendes Gelage, Seite an Seite mit einer geliebten Person. Für mein Empfinden hat Manet diese aufs Jenseits gerichtete Vorstellung in ein zeitgenössisches Gewand verpackt. Damit hat er die 'zeitlos' gewordene Idee entweiht, wenn man so will. Aber er hat sie auch bewahrt. Entweiht hat er sie, weil er sie in greifbare, alltägliche und triviale, bürgerliche Nähe gerückt hat. Gerettet hat er sie, weil er sie uns als vertraute und bewährte Vorstellung, als Bild auch erneuert. 
Es scheint mir sinnvoll, am Ende dieser Betrachtung nochmals zu Manets Statement vom Anfang zurückzukehren - "Ein Künstler muß sich in seiner Zeit bewegen und malen, was er sieht!" Manet ist alles andere als ein naiver Maler, dessen Hand nur darstellt, was ihr sein Auge meldet. Manet kann man nicht in einen Topf werfen mit Monet. Manet erscheint mir als ein Dolmetscher, ein Übersetzer traditioneller Inhalte mit dem Bemühen um eine zeitgemäße Sprache.

Olympia - moderne Venus?Zweiter Fall

Im selben Jahr, in dem das "Frühstück" den Salon erregt, heiratet Manet die Mutter seines mittlerweile elfjährigen Sohnes. Und er malt ein weiteres Bild seines Modells Victorine Meurand, diesmal unbekleidet auf einem Bett liegend. Erst zwei Jahre später, 1865 bringt er es in den Salon, wird wieder abgelehnt. Der "Salon des Refusés" ist inzwischen eine feste Einrichtung, ebenso wie der Skandal um ein Bild von Manet: Diesmal die "Olympia". Manet leidet einerseits unter diesen Zurückweisungen. Die Biografen sind sich darin einig, daß er sich nach ersten Erfolgen immer wieder um die Aufnahme in den Salon bewarb, weil er sich nichts sehnlicher wünschte, als die Anerkennung seiner Kunst durch die Öffentlichkeit und die offiziellen Gremien. Andererseits wurde er mit seinen Bildern, wie mit seinen Skandalen, zu einer Heldenfigur in der Szene derjenigen, die sowohl die akademische Malerei als "verlogen" ablehnten, als auch deren Vertreter verachteten.
Die Argumente für die Ablehnung der Olympia sind dieselben wie beim "Dejeuner", Manet hat also nichts dazugelernt. Warum versteht Manet die Ablehnung durch die Akademie nicht? Manet sieht sich in der Tradition einer Malerei, die er im Louvre, in Madrid, in Amsterdam in den großen Museen studiert hat. Ganz in akademischer Tradition kopierte er dort die großen Meisterwerke der Malerei und verarbeitet das Gesehene in deutlichen Zitaten und Anspielungen auf die Vorbilder.

Moderne Frau oder Gespielin?
Das frühe bürgerliche Zeitalter und die Kultur des Kaiserreichs bringen ein neues Frauenbild hervor. Während sich der Bürger im Haus die zivilisierte, kultivierte und gebildete Dame als Mutter seiner Kinder wünschte beschäftigte seine Phantasie in Bildern und Texten eine Frauengestalt von 'natürlicher' Leidenschaft und Erotik. Solche Natürlichkeit fand er in Romangestalten wie der "Nana" von Zola (erscheint 1880). Sie ist die Tochter einer Wäscherin und eines Trinkers, wird Schauspielerin obwohl sie dazu nicht begabt ist. Aber sie ist eine Schönheit und versteht es ihren Körper zur Schau zu stellen und ihn teuer zu vermarkten. Für die Aristokraten, Beamten und Minister des Kaiserreichs ist es Mode, zur zahlenden und spendablen Kundschaft einer Kokotte zu gehören, deren Zuneigung für mehrere Männer ausreicht. Sie erfährt in den Beichten der Männer Relevantes, spielt sie gegeneinander geschickt aus, erniedrigt sie, intrigiert und macht sie physisch von sich abhängig. Schauspielerinnen, Sängerinnen, Tänzerinnen, Kokotten bilden das gesellschaftliche Milieu, in dem auch Manets Modell, Victorine Meurand zu Hause ist. Dieses Milieu ist eine Gesellschaft in der Gesellschaft, vielleicht vergleichbar mit dem was man heute so als Prominenz bezeichnet: eine gesellschaftliche Gruppe von Individuen, mit der man Talkshows besetzen kann, vom gehobenen Pornostar über Schwule Regisseure und schlägernde Adelige bis hin zu Gesangs- oder Fußballstars und politischen Repräsentanten.
Neben der durchaus selbstbewußten und geschäftstüchtigen Kokotte beherrscht das Bild der Odaliske die männliche Phantasie. Das ist die in Unfreiheit gehaltene und versklavte weiße Frau aus dem orientalischen Harem, die zur Liebe gezwungen wird.
Ein Bild der Frau prägt sich im 19 Jh. in besonderer Weise aus und verbindet sich in Manets Olympia mit der schwarzen Katze. Es ist die Sicht von einem gefühls- und instinktgesteuerten Wesen, dem Verstand schwer zugänglich und rätselhaft, der tierischen Abstammung noch nicht ganz entwachsen. Die bildhafte Form dafür ist die Sphinx.

Verstehen wir heute eigentlich überhaupt noch, worum es bei dem Skandal damals ging?
Wenn man im Sommer durch den Englischen Garten in München spaziert, am Eisbach entlang und unterm Monopteros vorbei, dann hat hier die Vision Manets vom bürgerlichen Alltag Besitz ergriffen und hat dabei jegliches intime oder auch frivole Moment eingebüßt. Die hier gezeigte Stelle ist keineswegs ein abgegrenzter oder geschützter, paradiesischer Bereich, sondern liegt mitten in einem öffentlich zugänglichen Park, wenige Gehminuten von Hauptverkehrsadern der Stadt entfernt. Wer sich hier auszieht, kann mit Publikum rechnen. Es ist ihm entweder gleichgültig nackt betrachtet zu werden, oder er genießt es. Kaum denkbar, daß jemand nach einem Spaziergang durch den Englischen Garten ins fünf Minuten von dieser Stelle entfernte Haus der Kunst ginge und dort vor einem Skandalbild des 19. Jhs in seinem sittlichen Empfinden tiefgehend berührt werden könnte. Kaum denkbar, daß einer von den Nackedeis mit der Situation die Vorstellung von einem 'irdischen Paradies' verbindet.Wir assoziieren damit Freizeit, vielleicht Sonntag, vielleicht aber auch nur Mittagspause.          Paradise lost!